Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
den Kellerflur entlang. Er schimpfte und brüllte so laut wie zuvor.
»He, wo seid ihr? Zeigt euch! Dann kommt ihr mit ein paar Ohrfeigen davon!«
Die beiden neben mir zuckten zusammen.
»Wenn nicht, verpasse ich euch eine Tracht Prügel, dass ihr euer Leben lang dran denkt!«
Er blieb stehen, horchte. Dann drehte er wieder um, ging den Flur zurück und blieb erneut stehen.
»Na wartet«, sagte er wie zu sich selbst.
Er löschte das Licht und zog die Tür hinter sich zu. Dann steckte er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn einmal herum.
»Verdammt!«, kam es leise aus dem Mund des Mädchens.
»Was machen wir jetzt?«, fragte der Junge ebenso leise und fing an zu schluchzen. Ich glaube, er weinte sogar.
»Hör auf. Das hilft jetzt auch nicht«, flüsterte das Mädchen. »Irgendwie kommen wir schon raus.«
»Irgendwie, irgendwie«, äffte der Junge sie nach. »Nur wie?«
»Halt die Klappe, sonst kann ich nicht nachdenken.«
Der Junge wurde ruhig. Das Mädchen schien nachzudenken.
Nichts passierte. Dann stand sie ganz langsam auf, wobei ihre Knie knackten, ging zur Tür und drückte den Griff vorsichtig nach unten, als wollte sie überprüfen, ob tatsächlich abgeschlossen war.
»Mist!«
Auch der Junge stand jetzt auf. Dabei stieß er an die Kohlesäcke, sodass sie wackelten. Mit ihnen wackelte auch ich. So stark, dass ich das Gleichgewicht verlor und von den Säcken auf den Boden fiel. Er krachte.
»Was war das?«, fragte der Junge.
»Ratten.«
Der Junge bückte sich und griff nach mir.
»Quatsch. Schau mal, was das ist.«
Er hob mich hoch. Das Mädchen stand jetzt wieder neben uns.
»Ein Nussknacker.«
»Das sehe ich auch. Wie kommt der hierher?«
»Vielleicht wurde er auch eingeschlossen.«
»Hahaha.«
»Frau Behrend!«, hallte es durchs Treppenhaus.
Es war eindeutig Rene, der da schrie, als ginge es um sein Leben. Frau Behrend tauchte in diesem Moment mit ihrem kleinen Mülleimer im Hinterhof auf. Rene hingegen hörte man jetzt polternd die Treppe hinunterrennen, sodass auch er nicht viel später im Hinterhof erschien.
»Frau Behrend, wo ist der Nussknacker?«, rief er, noch immerso laut wie im Treppenhaus, und baute sich vor der ziemlich eingeschüchterten Frau auf. Als diese den ersten Schreck überwunden hatte, sagte sie nichts ahnend: »Was denn für ein Nussknacker?«
»Tun Sie doch nicht so unschuldig, Sie wissen genau, was ich meine«, konterte Rene, noch immer so aufgebracht wie zuvor. »Letzte Woche war der Nussknacker noch da, und jetzt ist er …«
»Vielleicht ist er aus dem Fenster gefallen«, ging Frau Behrend dazwischen.
»Aus dem Fenster!« Rene lachte höhnisch. »Das Fenster ist immer zu! Wie sollte er da …«
»Aber …«, setzte Frau Behrend an, doch Rene fiel ihr ins Wort.
»Sie sind die Einzige, die während meiner Abwesenheit in der Wohnung ist und …«
»Lars!«, schrie Frau Behrend dazwischen und dann noch einmal, so laut sie konnte, dass es im ganzen Hinterhof bedrohlich hallte: »LARS!«
»Oma?«, kam postwendend aus dem Fenster im dritten Stock.
»Komm sofort her!«, peitschte die Oma die Worte zu Lars hoch. Er nahm die Beine unter die Arme, flitzte in Windeseile die Treppen hinunter und stand kurze Zeit später schwer atmend neben seiner Oma und Rene im Hinterhof.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nichts anfassen«, sagte Frau Behrend und schüttelte Lars dabei an den Schultern. »Wo ist der Nussknacker?«
»Was für ein Nussknacker?«, gab Lars sich ahnungslos.
»Tu nicht so!«
Es klatschte, als hätte jemand mit der flachen Hand aufs Wasser geschlagen. Dann noch einmal. Lars schrie auf.
»Also, wo ist er?«
»Vielleicht ist er aus dem Fenster gefallen.«
»Spinnst du? Aus welchem Fenster? Die Fenster sind doch …«
»Aber …«
Wieder klatschte es. Wieder schrie Lars auf.
»Lassen Sie den Jungen in Ruhe«, mischte sich jetzt Rene ein und fügte hinzu: »Morgen ist der Nussknacker wieder da. Und von nun an setzen Sie keinen Fuß mehr in meine Wohnung.«
»Worauf Sie sich verlassen können«, entgegnete die Nachbarin. Ein Schlüssel fiel klirrend auf den Boden.
»Komm, Lars, wir gehen. Das müssen wir uns von so einem nicht bieten lassen.«
Sie nahm ihren Enkel an der Hand und zog ihn über den Hinterhof hinter sich her. Lars folgte ihr bis zur Haustür, wo er sich in ihrem Rücken rasch losmachte und an ihr vorbei davonrannte.
»Lars! Du sollst …« Schon war Lars verschwunden.
Auch Rene setzte sich jetzt in Bewegung
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