Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Fenster auf dem Rasenstück waren Bauarbeiter zu sehen, die geschäftig umherwuselten, als hätten sie es eilig. Neben den Bauarbeitern standen Soldaten und Volkspolizisten.
»Was hat das zu bedeuten?« Ich sah den unzähligen Bauarbeitern zu, die sich nun daran machten, Steine aufeinanderzumauern.
»Die bauen eine Mauer«, sagte der Sandmann, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.
»Eine Mauer? Was für eine Mauer denn?«
»Eine Mauer aus Beton. So hoch, dass man nicht drübergucken kann, geschweige denn drüberklettern.«
»Warum das denn?«, wollte ich wissen. Und konnte mir bei aller Fantasie nicht vorstellen, wozu so eine Mauer gut sein sollte.
»Meine Güte, bist du ein Ahnungsloser!« Der Sandmann lächelte wieder überheblich.
Und du bist ein aufgeblasener Wichtigtuer , dachte ich.
»Überleg doch mal. Du kommst schon drauf.«
»Damit Rebekka nicht mehr zurückkommt«, sagte ich.
Jetzt schien der Sandmann ein wenig verwirrt.
Ich lachte.
»So kann man es auch sehen«, sagte der Sandmann. »Aber ich glaube, es ist anders gemeint.«
»Und wie?«
»Damit nicht noch mehr Rebekkas abhauen. Und Anjas und Stefans, und Nicolais und …«
»Max!«, sagte ich.
»Wer ist Max?«
»Das verstehst du nicht«, sagte ich. Jetzt klang ich ein wenig überheblich.
»Die machen die Grenze dicht. Mit einer Mauer. Sie mauern das Land ein, damit die Bürger nicht mehr in den Westen können«, erklärte der Sandmann.
»Und der Westen nicht mehr in ihr Land«, sagte ich.
Der Sandmann stutzte und erwiderte: »Richtig.«
Ich dachte nach und versuchte, dem Gesagten noch einmal genau auf den Zahn zu fühlen, doch irgendwie fehlte mir das Verständnis. Nach einer langen Pause, in der auch der Sandmann ins Grübeln kam, fragte ich: »Aber warum?«
Als hätte er diese Frage erwartet, stieß der Sandmann hervor: »Weil drüben der Feind hockt!«
»Quatsch, das ist doch kein Feind!« Ich dachte an Irén, ihre Mutter, die Schwester und an alle, die mir »drüben« bisher begegnet waren.
»Natürlich ist es der Feind. Das sind alles Kapitalisten.«
Ich muss gestehen, dass ich nicht so recht wusste, was Kapitalisten waren. Trotzdem sagte ich: »Na und? Ich war schon drüben. Die Leute sind ganz nett.«
So stritten wir immer weiter, während die Mauer auf dem Rasenstück vor dem Haus höher und höher wurde. Gegen Mittag war sie bereits hüfthoch. Am Abend, als Rene widerErwarten nach Hause kam, war sie schon so hoch, dass die Bauarbeiter nicht mehr darüber hinwegsehen konnten. Die Mauer war aber nicht nur vor dem Haus. Sie zog sich von da, wo der Westteil der Stadt begann, in die Ferne, so weit das Auge reichte.
Die mauern das ganze Land ein , dachte ich. Ich konnte und wollte es nicht glauben.
Als Rene den Fernseher einschaltete, sah und hörte ich den Staatsratsvorsitzenden der Deutschen Demokratischen Republik, der feierlich davon sprach, dass die DDR sich von ihrem kapitalistischen Nachbarstaat deutlicher als zuvor abgrenzen werde und dass von nun an ein »antifaschistischer Schutzwall« das Land sichern solle. Was dieser Schutzwall sein sollte, war beim Blick aus dem Fenster klar: die Mauer.
Wie es schien, hatte der Sandmann doch recht behalten. Seine Blicke schienen das auch zu verdeutlichen.
* * *
In den nächsten Tagen entstand entlang der Grenze zur BRD eine über drei Meter hohe Mauer und teilte Berlin in zwei unüberwindbare Hälften. Natürlich war das traurig. Dennoch war es für mich die schönste Zeit in der Wohnung von Rene. Nicht nur, dass ich mit dem Sandmann jetzt einen Ansprechpartner hatte. Durch die aufregenden Geschehnisse vor dem Fenster wurde mein Aufenthalt hier auf dem Fenstersims auch ein wenig erträglicher, um nicht zu sagen richtig spannend. Es war mächtig was los, und es gab viel zu sehen.
Einmal ließ einer der Bauarbeiter wie vom Blitz getroffen die Schaufel fallen, sprang über die Steine und die höher werdende Mauer hinweg und rannte auf die andere Seite, soschnell seine Beine ihn trugen. Noch ehe die Volkspolizei und die Soldaten reagieren konnten, war der Mann schon im Westen. Wir standen offenen Mundes am Fenster und applaudiertem ihm.
Der Sandmann und ich hatten uns natürlich schon lange versöhnt und sprachen über die Veränderungen, die sich vor unseren Augen abspielten. Natürlich diskutierten wir auch über die Flucht des Bauarbeiters.
Am nächsten Tag kam wieder die Nachbarin in die Wohnung. Neben ihr erschien ein kleiner Junge in meinem
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