Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Der König schrie die ganze Zeit und die Prinzessin lachte, als würde sie den Verstand verlieren. Dann fing mich die Zauberin mit ihrem Zauberstab ein und wollte mich in ein Kanonenrohr stecken.
Ich sah, wie die Zuschauer entsetzt die Hände vor den Mund schlugen und bestürzte Blicke zur Bühne warfen.
»Den schießen wir zum Mond!«, hörte ich den König, das Land, die Prinzessin und alle anderen rufen, nur den Prinzen nicht. »Oder hinüber zum kapitalistischen Feind!«
Als wäre es bereits beschlossene Sache, sangen alle wie aus einem Munde: »Unser Lied die Ländergrenzen überfliegt:/ Freundschaft siegt! Freundschaft siegt!/ Über Klüfte, die des Krieges Hader schuf,/ Springt der Ruf, springt der Ruf:/ Freund, reih dich ein,/ dass vom Grauen wir die Welt befrein!/ Unser Lied die Ozeane überfliegt:/ Freundschaft siegt! Freundschaft siegt!«
Feierlich wurde ich in ein dickes Kanonenrohr gesteckt. Ich kam mir vor wie der verrückte Lügenbaron von Münchhausen. Das Ganze erinnerte mich an seinen Ritt auf der Kanonenkugel. Die Lunte wurde angezündet.
»Feuer marsch!«, sagte der König, und das Land rief: »Grüß mir den Klassenfeind!«
»Freunde, es wird ernst«, kam von der Prinzessin. Alle fingen an zu zählen, während die Zauberin ihren Zauberstab über dem Kanonenrohr tanzen ließ.
»Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins …«
Ohrenbetäubender Lärm. Viel zu laut und viel zu heftig feuerte die Kanone. Offenbar hat jemand zu viel Schießpulver hineingesteckt , dachte ich noch. Oder es war Sabotage.
Das konnte ich dann aber nicht mehr feststellen, da ich schon aus dem Rohr flog und durch die Luft segelte, der Sonne entgegen. Weit über das Volksheim hinaus.
Mit rasender Geschwindigkeit peitschte ich über Templin hinweg, über die uckermark und ganz Ostdeutschland. Ich sah die Grenze – für die einen der antiimperialistische Grenzwall, für die anderen der Todesstreifen. Auch die Suchscheinwerfer, die hilflos in der Nacht herumschwirrten, sahen mich nicht.
Ich flog immer weiter, bis die Nacht verschwand und der Tag kam. Ich schloss die Augen und spürte, wie der Wind um meine Ohren flatterte. Als ich die Augen wieder aufschlug, flog ich über Westdeutschland hinweg, über Baden-Württemberg.
Plötzlich änderte ich die Richtung. Ich flog nicht mehr geradeaus und auch nicht nach oben, sondern fiel. Kerzengerade sauste ich nach unten. Wie eine überreife Pflaume von einem Baum.
Ich sah eine Stadt, jede Menge Autos, ein Schwimmbad, ein Dach, eine Luke, Wasser …
Dann nichts mehr.
1963 – 1965, Stuttgart, BRD
»Heiligsblechle! Was isch noa des?«, sagte eine Frau, die eine Bademütze wie einen Sturmhelm auf dem Kopf trug und im Wasser nach mir griff.
Ich war in einem Schwimmbecken für Nichtschwimmer gelandet. In einem Schwimmbad. In einer anderen Welt, in der komisch geredet wurde, wie ich es nie zuvor gehört hatte.
Die Frau zog mich aus dem Wasser und hielt mich dicht vor ihr Gesicht, als traute sie ihren Augen nicht. »Wo kommt noa des her?«
Sie sah nach oben in die Luft und schaute zum Dach.
»Isch der vom Hemmel gfalla?«
* * *
Es dauerte nicht lange, und ich endete dort, wo alles endete, mit dem man nichts anzufangen wusste, was niemandem gehörte und was nicht einzuordnen war. Solche Dinge landetenauf einem kleinen Tisch im Aufsichtsraum des Bademeisters, bevor das meiste schließlich weggeworfen wurde. Es gab aber auch Gegenstände, die abgeholt wurden. Eine Taucherbrille, eine Uhr, eine Halskette, ein Badelatschen.
Aber ein Nussknacker? Wer sollte den vermissen? Wer sollte mich abholen?
Mir fiel nichts und niemand ein.
Mein Platz war von nun an – und auf unbestimmte Zeit – der Aufsichtsraum eines Bademeisters mit Blick auf die Schwimmhalle. Genau neben einem Fernseher, der den ganzen Tag lief. Meist stumm, manchmal auch mit leisem Ton. Einerseits blickte ich mitten hinein in die Welt – in die kleine Welt der Badenden und in die große, flimmernde Welt des Fernsehens –, andererseits stand ich abseits und staubte langsam vor mich hin.
Ich gebe zu, anfangs war das ja noch interessant. Vor allem der Blick in den viereckigen Flimmerkasten, der fast ununterbrochen schwarz-weiße Bilder zeigte.
Immer wenn der Bademeister umschaltete, hatte ich das Gefühl, dass sich in der Welt schon wieder große Dinge abgespielt hatten. Und tatsächlich ereigneten sich vor meinen Augen richtige Wunder. So zum Beispiel, als elf Bergleute im Herbst
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