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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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zwei Wochen lang in sechzig Metern Tiefe verschüttet wurden. Ganz allein harrten sie in Dunkelheit und Ungewissheit aus, bis sie nach langen, quälenden Wochen endlich gerettet wurden. Danach wurde dieses Grubenunglück, auch im Schwimmbad, nur andächtig das »Wunder von Lengede« genannt.
    Ein anderes herausragendes Ereignis war, dass der gut aussehende amerikanische Präsident John F. Kennedy nach Deutschland kam und vor dem Rathaus in Westberlin vor einer riesigen Menschenmenge verkündete: »Ich bin ein Berliner!«
    Ich fragte mich im Glaskasten in Stuttgart: Ost- oder Westberliner?
    Egal. Kennedy wollte damit auf jeden Fall seine Verbundenheit und Freundschaft mit dem Westen zum Ausdruck bringen. Er sprach auch die Mauer an, die nicht nur den Westdeutschen und Westberlinern ein Dorn im Auge war, sondern vor allem auch die Reisefreiheit der Ostdeutschen beeinträchtigte.
    »Alle freien Menschen«, rief Kennedy, »wo immer sie leben, sind Bürger Berlins, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: Ich bin ein Berliner!«
    Kennedy wurde bejubelt und als neuer Heilsbringer betrachtet.
    Doch das Eindrucksvollste, was in der langen Zeit, in der ich an meinem Platz stand, aus dem Kasten kam, war der Auftritt eines dunkelhäutigen Mannes, der im August 1963 für die schwarze amerikanische Bevölkerung die Rechte einforderte, die ihnen die Weißen vorenthielten. Martin Luther King hieß der beeindruckende Typ. Mehr als 250 000 Menschen demonstrierten mit ihm an der Spitze für Freiheit und Arbeit auf einem Marsch nach Washington, der Hauptstadt der Vereinigten Staaten.
    Dort hielt Martin Luther King eine Rede, die mich sehr bewegte. Er sagte: »Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben und die wahre Bedeutung ihres Glaubensbekenntnisses ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: Alle Menschen sind als gleich erschaffen. Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbstder Staat Mississippi, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und unterdrückung schmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt wird. Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt. Ich habe einen Traum, heute!«
    Ich hatte auch einen Traum, der aber viel banaler war. Ich wollte hier raus. Nur wusste ich nicht, wie ich das anstellen sollte. Außerdem passierten die wirklich spannenden Dinge gar nicht in der Welt draußen, ob in Amerika oder Deutschland, sondern hier drinnen, in diesem Glaskasten. Immer wenn einer der Badegäste den Bademeister in seinem Aufsichtsraum aufsuchte, kam Leben in die Bude. Die Gründe, warum die Badegäste erschienen, waren unterschiedlich. Einmal war es eine Lehrerin und ihr Schüler, die Hilfe brauchten, weil der Junge sich am Sprungbrett die Zehen aufgestoßen hatte und blutete. Oder es war ein kleines Mädchen, das seinen Schlüssel für die umkleidekabine verloren hatte.
    Einmal kam eine junge Frau, der schwindlig war und die sich – zittrig, bleich um die Nase und gestützt vom Bademeister – auf die Liege neben den Fernsehapparat legen musste. Sie lag noch nicht lange, da sprang sie unvermittelt auf, als wäre sie plötzlich wieder putzmunter, und alles wäre nur ein großer Schwindel gewesen.
    »Kennedy ist tot!«, schrie sie so hysterisch, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
    Der Berliner , dachte ich, während die Frau wie benommen auf den stummen Bildschirm starrte. Der Bademeister kam nun in seiner weißen Hose und dem weißen Hemd angerannt, so bleich wie zuvor die Frau, und fragte besorgt, was los sei.
    »Der amerikanische Präsident ist erschossen worden!«
    Die junge Frau zeigte auf die schwarz-weißen Bilder im Fernseher und fing an zu weinen.
    Das ist tatsächlich der Kennedy, der noch ein halbes Jahr zuvor ein Berliner sein wollte , dachte ich, konnte mich aber nicht entscheiden, ob ich auf den Bildschirm oder lieber zu der jungen Frau und dem Bademeister schauen sollte. Ich sah dann zu den beiden.
    Der Bademeister nahm die weinende Frau in den Arm und schien sich mit ihr an seiner Schulter ganz wohl zu fühlen.
    Des einen Freud, des anderen Leid, kam mir in den Sinn. Dann schaute

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