Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
ich doch auf den Bildschirm.
Es war unumkehrbar. Der amerikanische Präsident, der Hoffnungsträger, wurde am 22. November 1963 hinterrücks erschossen, als er in einem offenen Auto an der ihm zujubelnden Menge vorbeifuhr.
Der Tod John F. Kennedys war eine Katastrophe für ein ganzes Land, aber ein großes Glück für den kleinen Bademeister.
* * *
Als Kennedy schon lange unter der Erde lag, kam die junge Frau noch immer in den gläsernen Aufsichtsraum des Bademeisters. Jetzt lag sie aber nicht mehr auf der Liege, sondern saß am Tisch, trank Kaffee und war gut gelaunt. Auch der Bademeister war nicht mehr so mürrisch wie früher. Er lachte viel und wirkte wie ausgewechselt.
Natürlich war mir klar, was da gespielt wurde. Das Lied der Liebe natürlich. Es dauerte auch nicht mehr lange, bis es dem Höhepunkt zusteuerte und die beiden sich küssten.
Im Fernseher lief gerade der Boxkampf des zweiundzwanzigjährigenCassius Clay, der sich später Muhammad Ali nennen sollte, gegen Sonny Liston. Es ging um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht. Es sah beeindruckend aus, wie Muhammad Ali fast ohne Deckung, schnell und geschmeidig wie eine Raubkatze, seinen bulligen Gegner mit Schlägen traktierte und schließlich besiegte.
Das bekamen der Bademeister und die junge Frau aber gar nicht mehr mit, weil sie nur noch Augen für sich selbst hatten. Sie lagen sich in den Armen und brachten die Münder nicht mehr auseinander.
* * *
Ein paar Monate später war die junge Frau hochschwanger. Es war Herbst. Im Fernseher wurde der einmillionste Gastarbeiter in Deutschland begrüßt und bekam ein Moped geschenkt, während der Bademeister sich darauf freute, bald Vater zu werden.
Ich dagegen hätte mich über nichts mehr gefreut, als endlich aus diesem Glaskasten rauszukommen. Ich hatte es satt, ständig nur mehr am Leben anderer teilzuhaben und das eigene Leben gänzlich zu vernachlässigen. Was erlebte ich hier denn schon? Nichts, gar nichts! Es geschah viel, aber ich war nicht dabei. Dank der Glotze war ich immer auf dem Laufenden, was wann wo passierte; dennoch langweilte ich mich zu Tode. Denn was ich sah, war kein selbst erlebtes Leben, es war das Leben anderer. Es hatte mit mir nichts zu tun, nicht die Bohne.
Deshalb war ich heilfroh, als eines Tages ein junger Mann auftauchte, mehr Junge noch als Mann, und felsenfest behauptete, der Nussknacker gehöre ihm. Was natürlich eine Lüge war, denn ich gehöre niemandem. Aber wenn es half, aus diesemSecond-Hand-Leben wegzukommen, war ich bereit, den Schwindel mitzumachen.
Ich nickte also, was das Zeug hielt. Doch der Bademeister schien es nicht richtig deuten zu können und sagte zu dem jungen Mann: »Das kann jeder behaupten!«
Vielleicht hatte er mich auch für sein Kind vorgesehen, das bald geboren werden sollte. Bloß nicht! , dachte ich, für einen Säugling bin ich nun wirklich nicht die erste Wahl.
»Stimmt«, sagte der Junge. Ich wusste nicht, ob er meinen Gedanken oder die Worte des Bademeisters meinte.
Der Junge lachte und sah irgendwie komisch aus. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er war vielleicht fünfzehn, womöglich auch älter, hatte schon einen leichten Bartflaum über der Oberlippe und eine tiefe Stimme. Dennoch wirkte er so, wie er sich bewegte, ein bisschen kindlich.
»Aber ich bin nicht jeder«, sagte er, was ziemlich selbstbewusst klang. »Und das ist auch nicht irgendein Nussknacker!« Er zeigte auf mich. »Erstens ist er meiner, und zweitens ist er ein ganz besonderer!«
Das gefiel mir. Es gefiel mir sogar sehr. Dem Bademeister weniger. Er sah mich an und schien große Schwierigkeiten zu haben, schlussendlich zu begreifen, was an mir so besonders sein sollte. Nun ja, ich war als Nussknacker nun mal nicht zu gebrauchen, das schien auch er kapiert zu haben. Mit dem zugeleimten Mund war keine Nuss der Welt zu knacken. Deshalb war es ihm ein Rätsel, was an mir so besonders sein sollte.
»Und?«, fragte er, als hätte der Junge eine Antwort. Hatte er auch.
»Schon mal was von den Peanuts gehört?« Der Junge fragte es frech und verschränkte dabei die Arme vor der Brust.
Der Bademeister zeigte zum Fernsehapparat. »Du meinst dieses amerikanische Comiczeug?«
Der Junge nickte geheimnisvoll. Der Bademeister schaute belämmert. Offenbar fragte er sich, was ich mit den Peanuts zu tun haben könnte. Schließlich waren die Peanuts eine erfolgreiche Comicserie. Erst vor Kurzem war der erste Trickfilm mit den Helden der Serie herausgekommen und wurde
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