Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
der Garderobe. Das änderte sich dann aber plötzlich. Als für die Feierlichkeiten zum 1. Mai ein neues Stück einstudiert werden sollte, kam Linda auf die Idee, ein solches Stück einfach selbst und gemeinsam mit den anderen zu schreiben, um es dann auf die Bühne zu bringen. Die anderen Kinder fanden die Idee großartig und hatten auch gleich Vorschläge, worum es in dem Stück gehen könnte und welche Marionetten gebastelt werden sollten. Lars zeigte auf mich und sagte, er könne sich gut vorstellen, dass auch ich im Marionettenspiel eingesetzt würde.
»Der ist doch wie geschaffen dafür.«
»Hast recht!«, sagte Linda.
Die anderen waren der gleichen Meinung.
»Da haben wir schon mal die erste Marionette!« Lars schien sich selbst für seinen Einfall zu beglückwünschen.
Andere Marionetten sollten folgen. Nämlich ein Prinz, eine Sonne, ein Land, eine Prinzessin, ein König und eine große schöne Zauberin. Ich wiederum wurde als Nussknacker ein Bote im Marionettenmärchen der Kinder.
Plötzlich stand ich nicht mehr im Abseits, also in der Garderobe oder sonst wo, sondern im Mittelpunkt, nämlich auf der Bühne. Was mir wiederum gar nicht so recht war.
Ich kam mir ziemlich dämlich vor. Ich wollte nicht Theater spielen. Marionettentheater war für mich der Albtraum. Das Leben war für mich Spiel genug. Ich brauchte nicht auch noch auf einer Bühne zu stehen. Aber Lars und Linda waren anderer Meinung. Vor allem waren beide sehr eigensinnig. Ob ich wollte oder nicht, mir blieb nichts anderes übrig, als ihre Meinung zu respektieren.
Also spielte ich in dem Stück, das die Kinder selbst verfasst hatten, die Rolle des Nussknackers. Wie originell! Ich bin ja schon vieles gewesen in meinem über sechzig Jahre währenden Leben: Talisman, Lebensretter, Kunstobjekt, Ladenhüter, Schmuggelbehälter, Trophäe, Modell, Trostpreis und vieles andere mehr. Nun war ich auch noch Schauspieler. Marionette, um genau zu sein.
* * *
Am ersten Mai gingen die Lichter im Saal des Volksheims aus, und die Stimmen verstummten. Ab und zu hörte ich noch einen Huster, ein Hüsteln und ein, zwei »Pssst!«, dann war es mucksmäuschenstill.
Der schwere Samtvorhang ging quietschend auf und bewegte sich langsam zur Seite. Das Licht auf der Bühne ging an.
Der Nussknacker taucht auf.
Nussknacker: Prinz, ich soll dir von deinem Vater sagen, dass du die Prinzessin heiraten musst.
Ein Prinz erscheint.
Prinz: Hier ist es kalt und unwirtlich. Außerdem habe ich keine Lust, die dicke Prinzessin zu heiraten. Sie ist hässlich und stinkt.
Die Prinzessin taucht auf der anderen Bühnenhälfte auf.
Prinzessin: Der Prinz ist auch hässlich und stinkt ebenfalls. Auch ich habe keine Lust, ihn zu heiraten. Aber sein Vater, der König, besteht darauf.
Nussknacker: Was soll ich deinem Vater, dem König, antworten?
Prinz: Nichts.
Der König kommt hinzu.
König: Mein Sohn soll später das Land übernehmen, dafür braucht er eine Frau.
Das Land kommt hinzu.
Land: Der Prinz ist der Nachfolger vom König. Und ich, das Land, brauche einen König.
König: Also muss er heiraten.
Nussknacker: Ich soll dir von deinem Vater, dem König, und deinem Land ausrichten, dass du heiraten musst.
Prinz: Ich will aber nicht. Ich will weg. Hier ist es kalt und unwirtlich. Da drüben scheint die Sonne.
Die Sonne erscheint.
Sonne: Ich scheine. Auch für dich, lieber Prinz. Wenn du willst, kannst du dich an mir wärmen.
König: Der Sturschädel will nicht. Was soll ich machen, Land?
Nussknacker: Was soll er machen, Land?
Land: Frag doch einfach die Zauberin, vielleicht weiß die einen Rat.
Die Zauberin taucht auf.
Zauberin: Ich könnte ihm den Kopf verdrehen. Ich könnte ihn verzaubern, dass er die Prinzessin über alles liebt, dass er glaubt, die Kälte wäre die Wärme, die Sonne im Herzen, und das Land das Paradies.
König: Gute Idee. Leg los.
Nussknacker: Gute Idee. Leg los.
Noch ehe die Zauberin loslegen konnte, geschah etwas unglaubliches. Ich hielt mich nicht mehr an den Text, den die Kinder geschrieben hatten, sondern improvisierte. Dabei fielich völlig aus der Rolle. Es war kein Blackout, eher das Gegenteil, nämlich lichte Momente, die sich aneinanderfügten. Aus mir drangen Worte, die Linda und Lars gar nicht geschrieben hatten. Aber auch die anderen Figuren schienen sich nicht mehr an den Ablauf des Stückes und den Text zu halten. Alles ging drunter und drüber. Ich entführte den Prinzen, brachte ihn zur Sonne und verwüstete das Land.
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