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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Vietnamstammte. Es hatte dem Soldaten das Leben gerettet, hätte ich gern zu Schwester Lisa gesagt, ließ es dann aber. Sie hätte mich sowieso nicht verstanden.
    »Durchschuss«, meinte Lisa und lachte.
    Was ist daran so komisch? , fragte ich mich.
    Zwei andere Krankenschwestern gesellten sich zu uns.
    »Das Maul kann er auch nicht mehr bewegen«, sagte eine der beiden.
    »Der ist eindeutig Schrott«, meinte ihre Kollegin und deutete mit der Hand auf den Mülleimer vor uns.
    »Für den gibt es keine Verwendung mehr.«
    Undankbares Gesindel , dachte ich. Da ist man Lebensretter und droht dennoch im Abfall zu verschwinden. Wenigstens Lisa schien etwas dagegen zu haben.
    »Den schick ich meiner Luzie«, sagte sie, wobei die anderen dreinschauten, als wäre Luzie vom Mond. War sie aber nicht. Doch für die anderen beiden war Luzies Zuhause mindestens so weit weg.
    »In die Ostzone!«, sagte Schwester Lisa.
    Die anderen lachten wieder, während eine sagte: »Ja, die können so was noch gebrauchen.«
    »Luzie freut sich bestimmt.«
    Dann bückte sie sich, um neben dem Bett einen Waschlappen aufzuheben. Dazu kam sie aber nicht mehr. Sie schrie plötzlich so laut, dass die anderen vor Schreck zusammenzuckten.
    Sie hielt mich noch immer in der einen Hand fest umklammert und griff sich mit der anderen an den Rücken.
    »Bandscheibe«, sagte sie, wie man »Hölle« sagt.
    Geschieht dir recht , dachte ich. Das ist die Strafe dafür, mich einfach abzuschieben.

1966 – 1967, Plauen, Sachsen, DDR
    »… Tante Else geht es gut, ich hab einen Bandscheibenvorfall, und Hermann steht noch immer den ganzen Tag auf dem Fußballplatz.
    Theresa hat geheiratet, und Rolf fängt in Westberlin an zu studieren. Fragt mich nicht was, er hat es mir mehrmals erklärt, aber ich weiß es immer noch nicht genau. Ich glaube, irgendwas mit Politik. Bei uns haben wir den einmillionsten Gastarbeiter begrüßt. Ein Portugiese. Er hat als Geschenk ein Moped bekommen, stellt euch das vor! Könnten wir auch gut gebrauchen. Und ihr erst, nicht wahr? Hab euch Nescafé, Schokolade, paar Schulhefte, Strumpfhosen, Gummibärchen und die Karamellbonbons reingelegt, die ihr so gern mögt. Das Übliche eben. Ich hoffe, die Grenzer nehmen nicht wieder das Beste raus. Für Luzie ist noch was zum Spielen dabei. Lasst es euch gut gehen, ich küss euch alle. Tante Lisa und Onkel Hermann.«
    Die Frau mit der frischen Dauerwelle legte den Brief zur Seite und kramte in dem Paket, das vor ihr lag.
    »Der Nescafé fehlt!«, sagte sie plötzlich und schaute einen alten Mann an, der in einem Schaukelstuhl saß, eine Zigarre rauchte und ständig den Kopf schüttelte.
    »Hab ich mir beinahe gedacht.« Die Frau ärgerte sich. »Hier, Luzie, das ist für dich!«
    Sie packte mich an den Beinen, zog mich kopfüber aus dem Paket und reichte mich einem vielleicht zehnjährigen Mädchen mit kurzen Haaren und einem Gesicht wie dem eines Jungen.
    »Was ist das denn?«, fragte das Mädchen, verkniff dabei das Bubengesicht zu einer hässlichen Grimasse und deutete mit dem Finger auf mich, als wäre ich ein ungetüm.
    »Keine Ahnung. Spielzeug, würde ich sagen.«
    Die Mutter hob die Schultern und widmete sich wieder dem Paket.
    »Will ich nicht!«
    Das Mädchen drehte sich weg und setzte sich neben den alten Mann an den Tisch.
    »Luzie, das ist ein Geschenk von Tante Lisa und Onkel Hermann!«, sagte die Mutter mit strenger, ein bisschen zu lauter Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
    »Mir doch egal! Außerdem wissen die doch gar nicht, wenn ich das Geschenk nicht …«
    »Luzie!«
    Die Stimme der Mutter schwoll bedrohlich an. »Du nimmst jetzt sofort diesen Nussknacker, stellst ihn in dein Zimmer und dann ist gut, verstanden?«
    Das Gesicht der Mutter wurde rot, und sie kniff zornig die Lippen zusammen. Luzies Mundwinkel krümmten sichnach unten. Sie stand auf, packte mich wie ein nutzloses Stück Brennholz am Hals und hielt mich achtlos in der Hand, als hätte sie beschlossen, sich ab sofort nicht mehr um mich zu kümmern, und zwar für immer.
    Sie beugte sich vor, blickte in das Paket und sagte freudig und in völlig verändertem Tonfall: »Da sind ja auch noch Karamellbonbons!«
    »Als ob es bei uns keine gäbe!«, meldete der Opa sich das erste Mal zu Wort, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen, wobei er im Schaukelstuhl vor und zurück wippte. Immer wenn er nach vorne schaukelte, knarrte es wie eine alte Tür.
    »Aber bei uns sind sie nicht so sahnig und süß«, entgegnete

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