Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
nun an mein Leben vermutlich zwischen Puppen mit ausgerissenen Armen, Turnbeuteln und muffigen Halbschuhen in einem staubigen, dunklen Eck verbringen musste. Schuld oder nicht schuld, so eine Zukunft hatte ich nach all den anstrengenden und aufregenden Jahren nicht verdient, wie ich fand. Ich überlegte, wie ich schnellstmöglich aus diesem Haushalt mit der argwöhnischen Luzie, der weinerlichen Mutter und dem tyrannischen Großvater entkommen konnte. Mir fiel aber nichts ein. Ich hoffte mal wieder auf einen Zufall.
Und der kam!
Er kam in Gestalt eines ebenfalls ungefähr zehnjährigen Mädchens, der besten Freundin von Luzie: Miriam!
»He, der sieht ja süß aus!«, sagte Miriam, als sie mich zwei Tage später – ich war bereits ein wenig eingestaubt – inmitten der Schuhe und Turnbeutel entdeckte.
»Quatsch«, erwiderte Luzie. »Blöd sieht der aus, total blöd!«
»Finde ich nicht.«
»Ich schon.«
»Ich nicht.«
»Ich schon!«
»Na dann, viel Spaß damit!«
Luzie griff entschlossen nach mir und knallte mich resolut vor Miriams Brust.
»Danke.«
»Doch nicht dafür.« Luzie lachte gequält.
Miriam lachte auch, aber freudig und gelöst. Auch ich konnte mir ein erleichtertes Schmunzeln nicht verkneifen, während wir uns das erste Mal lange und tief in die Augen schauten. Es war sozusagen Freundschaft auf den ersten Blick. Eine Freundschaft, die, so hoffte ich, lange anhalten würde. Ich glaube, Miriam hat in diesem Moment Ähnliches gedacht. Zumindest sah sie so aus. Ein weiterer Grund, weshalb sie sich sofort auf meine Seite schlug, war der, dass für sie und ihre Familie alles, was aus dem Westen kam, einen großen Stellenwert hatte. Ich war auch aus dem Westen, das erkannte Miriam auf den ersten Blick. Also musste sie mich unbedingt haben. Und Luzie war froh, mich endlich los zu sein. Ich hatte also mal wieder Glück gehabt. Wie schon so oft in meinem Leben.
Miriam und Luzie wohnten in einer tristen grauen Einfamilienhaussiedlung fast nebeneinander. Sie waren die besten Freundinnen und verbrachten die meiste Zeit zusammen, obgleich sie dabei ziemlich oft miteinander stritten und unterschiedlicher Meinung waren. Aber vielleicht muss das so sein, um beste Freundinnen zu werden. Sie waren beide gleich alt und gingen in dieselbe Schule und dieselbe Klasse. Sie waren auch gemeinsam bei den Jungpionieren und übernachtetenmindestens einmal die Woche zusammen. Abwechselnd einmal bei Luzie, das nächste Mal bei Miriam.
* * *
Von nun an war ich aus Miriams Leben nicht mehr wegzudenken und immer und überall dabei. Sogar beim Fahnenappell. Als Miriam mit ganz vielen anderen Mädchen und Jungs ihres Alters auf dem Marktplatz das rote Halstuch überreicht bekam und damit zu einem Thälmannpionier wurde, steckte ich unter ihrem blauen Rock, während sie mit erhobenen Fingern schwor, »immer bereit zu sein«.
Wofür bereit? , dachte ich und hörte, wie ein schon älterer Mann, der Vorsitzende der Kreisleitung, auf einem kleinen Podest in ein Mikrofon sprach und mit blecherner, ein wenig verzerrter Stimme über den Ernst des Lebens und die Verantwortung gegenüber den Jüngeren sprach. Er sagte: »Wir Thälmannpioniere lieben unser sozialistisches Vaterland, die Deutsche Demokratische Republik. Wir tragen mit Stolz unser rotes Halstuch und halten es in Ehren. Wir lieben und achten unsere Eltern. Wir lieben und schützen den Frieden und hassen die Kriegstreiber. Wir sind Freunde der Sowjetunion und aller sozialistischer Brudervölker und halten Freundschaft mit allen Kindern der Welt. Wir lernen fleißig, sind ordentlich und diszipliniert. Wir lieben die Arbeit, achten jede Arbeit und alle arbeitenden Menschen. Wir lieben die Wahrheit, sind zuverlässig und einander Freund. Wir halten unseren Körper sauber und gesund, treiben regelmäßig Sport und sind fröhlich.«
Als er fertig war, schien er ein bisschen heiser zu sein. Zuletzt fragte er noch einmal, ob alle für den Frieden und den Sozialismus bereit seien.
»Immer bereit!«, riefen die Mädchen und Jungs, so laut sie konnten. Auch Miriam und Luzie. Sie hoben dabei ihre rechte Hand mit den geschlossenen Fingern über den Kopf.
Was Frieden war, wusste ich. Was Sozialismus sein sollte, war mir schleierhaft. Dennoch hinterließ das Gelöbnis einen imposanten Eindruck.
Von nun an war Miriam Thälmannpionierin und ging in die vierte Klasse. Ich wich ihr, ob Thälmannpionier oder nicht, nicht mehr von der Seite. Was natürlich Luzie auch irgendwann
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