Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Luzie.
»Ja, ja, ich weiß schon. So süß, dass die Zähne kaputtgehen«, brummte der Alte. Dabei fiel ihm die Asche von der Zigarre auf den Wohnzimmerboden.
»Hör doch auf, Opa!«
Die Mutter mischte sich wieder ein. Sie nahm die Schulhefte, das Waschmittel, die Seifen und allerhand anderes Zeug aus dem Paket und legte es ordentlich nebeneinander auf den Wohnzimmertisch. Dann drehte sie sich noch einmal und ganz plötzlich zu dem Alten um und fauchte: »Und lass nicht immer die Asche auf den Boden fallen!«
Der Alte zog wieder an seiner Zigarre, sodass sie wie das Rücklicht eines Autos glühte, und sagte knarzig und kaum zu verstehen, die Zigarre wie ein Pfropfen im Mund: »Die wollen doch nichts anderes, als unsere Zähne mit ihrem klebrigen, pappsüßen Zeug kaputt machen!«
»Ludger!« Die Mutter sagte es noch zorniger als zuvor.
»Darauf hat der Klassenfeind es doch nur abgesehen! Aufunsere Gesundheit!« Der Opa knarzte weiter und wippte knarrend vor sich hin.
»Das ist doch albern!« Die Mutter griff sich mit großer Geste an den Kopf, wobei sich wieder ein verkniffener Zug um ihren Mund legte.
»Und wenn sie es nicht von außen schaffen«, schimpfte der Opa weiter, »versuchen sie es eben von innen!«
Die Mutter tippte sich an die Stirn. So lange, bis ein kleiner roter Punkt neben ihrer rechten Schläfe entstand. Dann sagte sie: »Tante Lisa und Onkel Hermann meinen es doch nur gut!«
Der Opa nahm die Zigarre aus dem Mund und lachte bissig. Der Schaukelstuhl wippte dabei nervös hin und her. Wieder rieselte ein wenig Asche auf den Boden.
»Die meinen wohl, wir leben hier hinter dem Mond, was? Die sollen sich ihre verdammten Westpakete doch sonst wohin stecken.«
Die Mutter unterbrach das Sortieren der Lebensmittel und schaute den Opa ein wenig böse an. Der zog wieder demonstrativ an seiner Zigarre und blies den Rauch der Mutter entgegen. Die ging einen Schritt auf den Opa zu und sagte leise und bedächtig: »Dass es bei uns nicht immer alles gibt, ist doch kein Geheimnis, Ludger.«
Jetzt verharrte der Opa, starrte die Mutter an, beugte sich ebenfalls ein wenig nach vorne und sagte lauter als zuvor: »Man braucht auch nicht immer alles, meine Tochter!«
»Aber ein bisschen öfter wäre ab und an ganz schön!«, kam es noch leiser von der Mutter zurück.
»Wir haben alles, was man zum Leben braucht.« Der Opa lehnte sich in seinen Schaukelstuhl zurück, als wäre damit alles gesagt.
Aber denkste. Seine Tochter gab sich noch immer nicht geschlagen und murmelte vor sich hin: »Und was wir nicht haben, stellen wir uns vor.«
Dann widmete sie sich wieder den Lebensmitteln.
»So ist es!« Der Opa zog kräftig an seiner Zigarre und blies den Rauch zur Decke.
Jetzt lachte die Mutter feindselig. »Da hätte ich ja den ganzen Tag nichts anderes zu tun!«
»Dann geh doch rüber zu diesen Kapitalisten, wenn es dir hier nicht passt!« Der Opa brüllte es plötzlich, dass die Asche schon wieder von der Zigarre auf den Wohnzimmerboden rieselte.
»Pssst!«, machte Luzie, die noch immer an der Tür stand und mich an den Beinen hielt. Sie legte einen Finger auf den Mund; dann zeigte sie mit demselben Finger nach draußen.
»Geht ja nicht!«, flüsterte die Mutter und schluchzte. »Wegen dieser blöden Mauer!«
»Das ist keine blöde Mauer, meine liebe Tochter, sondern ein antifaschistischer Schutzwall! Verstehst du, meine liebe Tochter?« Der Opa brüllte es genauso laut wie zuvor. »Damit nicht alle undankbaren DDR-Bürger, die so denken wie du, meine liebe Tochter, sich verantwortungslos so mir nichts dir nichts davonstehlen können.«
Das sind jetzt aber ein bisschen viele »liebe Töchter« , dachte ich, als Luzie schon wieder »Pssst!« machte und ihren Zeigefinger erneut auf den Mund legte.
»Luzie, geh jetzt endlich in dein Zimmer!«
Die Mutter zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger zur Tür.
»Darf ich ein Karamellbonbon mitnehmen?«
»Nein!«, sagte der Opa.
»Ja!«, sagte die Mutter.
»Nimm lieber diesen Spielzeugschrott da mit«, fügte Opa Ludger hinzu und zeigte auf mich. Er schüttelte den Kopf und brummte: »Das ist mal wieder typisch. Nicht mal funktionieren tut er, dieser Dreck.«
Er lachte wieder boshaft, rauchte qualmend vor sich hin und wippte, dass der Schaukelstuhl wieder entsetzlich knarrte.
* * *
»Du bist schuld!«
Luzie pfefferte mich in eine Ecke ihres Zimmers.
Warum und woran ich schuld sein sollte, war mir schleierhaft. Aber es schien unausweichlich, dass ich von
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