Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Teller. »Lisa, wir gehen!« Er sagte es so wütend, dass den anderen, außer Ludger natürlich, der Atem stockte. »Ich bleibe keine Minute länger in diesem Haus!«
Opa Ludger lachte.
Dann sagte er so vergnügt, als wäre es ein besonders lustiger Scherz: »Geht doch. Für solche wie euch ist bei uns sowieso kein Platz.«
»Ludger!«
Luzies Mutter warf jetzt ebenfalls ihre Serviette auf den Tisch und wandte sich an die Schwester, die bereits aufgestanden war.
»Lisa, das könnt ihr doch nicht machen!« Dann an ihren Schwager: »Hermann, bitte!«
»Wir gehen!«
Onkel Hermann ging zum Garderobenständer und griff nach seiner Jacke – so heftig, dass der ganze Ständer dabei umstürzte und alle Jacken übereinanderfielen.
»Das ist mal wieder typisch. Selbst die Garderobenständer sind hier Pfusch!«, brummte er und zog sich dabei die Jacke an.
»Kein Wunder, wenn man wie ein Ochse daran zieht!«, konterte Opa Ludger und qualmte genüsslich seine Zigarre.
»Es tut mir leid, Luzie, aber was soll ich machen?« Tante Lisa bemühte sich aufrichtig und mit Tränen in den Augen um Verständnis.
Hermann knöpfte seine Jacke zu. Er stolperte über die am Boden liegenden Kleidungsstücke hinweg zur Tür.
Luzies Mutter brach in Tränen aus. Tante Lisa hob ihre Jacke vom Boden auf und folgte ihrem Mann.
Onkel Hermann saß bereits in seinem VW-Käfer in der Hofeinfahrt mit laufendem Motor, als Tante Lisa ihre Schwester umarmte und beide dabei Tränen vergossen. Schließlich strich sie Luzie über den Kopf und stieg zu ihrem Mann in den Wagen.
Mit durchdrehenden Reifen fuhr der VW los und hinterließ eine Staubwolke, während Luzie, ihre Mutter, Miriam und ich hustend an der Haustür standen und ihnen hinterherwinkten.
Von diesem Tag an kamen keine Pakete mehr aus dem Westen. Nur eine Postkarte zu Weihnachten kam noch, auf der aber nur Tante Lisa unterschrieben hatte.
* * *
Nach dem Ferienlager war Tom ziemlich verändert. Jedenfalls kam es mir und Miriam so vor. Es schien, als würde er Miriam aus dem Weg gehen. Immer wenn sie ihn fragte, ob sie nach der Schule zusammen etwas unternehmen wollten, sagte er, er habe keine Zeit oder irgendetwas Dringendes zu erledigen. Was, wollte er nicht sagen.
»Irgendwas hat der doch«, sagte Miriam zu Luzie. »Ist dir das noch nicht aufgefallen?«
»Nö«, kam es postwendend zurück. »Mir gegenüber ist er ganz normal.«
»Dir vielleicht, aber mir nicht.«
Luzie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Frag ihn doch einfach selbst.«
»Das tue ich auch!«
Nach der Schule folgte Miriam Tom.
»He, warte doch mal!«, rief sie schon von Weitem.
Tom wartete aber nicht, sondern schritt noch schneller voran. Also legte auch Miriam einen Zahn zu und rannte los, bis sie ihn kurz vor der Hofeinfahrt seines Zuhauses erreicht hatte. Sie zog ihn am Ärmel und baute sich vor ihm auf. Völlig außer Atem fragte sie: »Sag schon, was ist los?«
»Was soll denn los sein?«, fragte Tom eingeschüchtert und ohne Miriam anzusehen.
»Was soll denn los sein, was soll denn los sein«, äffte sie ihn nach. »Glaubst du, ich bin blöd und merke nicht, dass du irgendwas gegen mich hast?«
Toms Augen flatterten wie Schmetterlinge. Er blickte zu Boden, nach rechts, nach links, dann zur Hofeinfahrt, dann wieder zu Boden, bis Miriam ihn sanft gegen die Brust boxte.
»Na los! Sag schon!«
Tom holte tief Luft und blickte Miriam in die Augen. »Deine Eltern haben einen Ausreiseantrag gestellt.«
»Was?«
»Deine Eltern wollen abhauen!«
»Quatsch!«
»Dann glaubst du es eben nicht.«
Tom wollte sich an Miriam vorbeidrängen, doch sie hielt ihn an seiner Jacke fest.
»Woher weißt du das?«, fragte sie, ohne ihn loszulassen.
Tom wollte zuerst nichts sagen. Als Miriam aber noch fester zupackte und an seiner Jacke schüttelte, sagte er: »Mein Vater hat es erzählt.«
»Und?« Miriam ließ nicht locker.
»Was und?«
»Was hat er noch gesagt?« Wieder schüttelte sie ihn.
»Dass ich dir aus dem Weg gehen soll.«
Miriam ließ Tom los.
»Und das tust du auch, was?«
Es klang enttäuscht und traurig. Tom zuckte mit den Schultern, die Blicke wieder vor sich auf den Boden gerichtet.
»Weiß nicht.«
Mit gesenktem Kopf ging er an Miriam vorbei und verschwand in der Hofeinfahrt. Miriam blieb stehen und schaute ihm noch lange hinterher. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
»Was hat er denn?«, fragte Luzie, die mittlerweile zu Miriam aufgeschlossen hatte und jetzt
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