Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
interessiert neben ihr stand.
»Ach, nichts. Lass mich in Ruhe!«
Dann machte sich auch Miriam davon.
* * *
Am Abend wartete sie im Wohnzimmer, bis ihre Eltern von der Arbeit nach Hause kamen. Noch ehe ihr Vater und ihre Mutter die Jacken ausgezogen hatten, sagte Miriam bitter und mit ernster Miene: »Warum habt ihr einen Ausreiseantrag gestellt?«
Ihre Eltern konnten zuerst gar nichts sagen. Verdutzt blieben sie im Flur stehen. Sie rangen sichtlich um Worte, bis schließlich aus dem Mund ihrer Mutter ein zaghaftes »Woher weißt du das?« kam.
»Von Tom.«
»Verdammt!«, stieß der Vater hervor, wobei er das Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzog.
»Warum wollt ihr abhauen?« Miriam ließ nicht locker.
»Wir wollen doch nicht abhauen, wir wollen hier nur nicht mehr bleiben.« Die Mutter versuchte es ihrer Tochter noch immer zaghaft zu erklären.
»Das ist doch dasselbe.«
»Ist es nicht.«
»Hör mal zu, Miriam«, mischte sich jetzt ihr Vater ein. »Mama und ich fühlen uns hier nicht mehr wohl. Wir wollen nicht immer gegängelt werden. Wir wollen frei bestimmen, was wir tun und lassen können, verstehst du?«
»Nein.« Es klang trotzig.
»Das ist auch nicht so einfach zu verstehen.«
Ihre Mutter legte den Arm um ihre Tochter. Miriam nahm den Arm von ihrer Schulter und sagte ganz nüchtern: »Ja, ja, ich weiß, ich bin noch zu klein, was?«
Na, was jetzt , dachte ich.
»Warum habt ihr mir nichts davon erzählt?«, fragte Miriam.
»Das hätten wir schon noch«, sagte ihr Vater eingeschüchtert und ging jetzt im Wohnzimmer unruhig auf und ab.
»Wenn dem Antrag stattgegeben worden wäre«, fügte ihre Mutter kleinlaut hinzu.
»Ihr könnt die Entscheidung doch nicht einfach ohne mich treffen«, beschwerte sich Miriam und wollte noch etwas hinzufügen, als ihre Mutter mit »Das hätten wir auch nicht« dazwischenging.
»Außerdem hat sich das jetzt ohnehin erledigt«, sagte Miriams Vater enttäuscht.
»Ja, für euch vielleicht.«
Miriam rannte aus dem Wohnzimmer und die Treppen hoch in ihr Zimmer. Mit einem lauten Knall schlug sie die Tür hinter sich zu und schloss sie ab, was sie normalerweise nie tat.
Kurze Zeit später klopfte es. Die zaghafte, schuldbewusste Stimme ihrer Mutter war zu hören.
»Miriam, mach doch auf. Bitte.«
Miriam machte nicht auf.
* * *
In Miriams Klasse waren die Ausreisebestrebungen deutlich an den leeren Stühlen abzulesen. Zuerst war Renes Platz verwaist. Dann blieb Hans verschwunden. Danach Anna, Nicole, Sophie. Und erst seit ein paar Tagen kam Ronny nicht mehr zur Schule. Wo die Schüler blieben, kam nicht zur Sprache, aber jeder wusste, dass sie nie mehr wiederkommen würden.
»Wenn das so weitergeht, ist bald gar keiner mehr hier«, sagte die Lehrerin einmal wie zu sich selbst und schüttelte den Kopf.
»Doch, ich«, warf Tom ein. Alle anderen lachten. Nur Miriam und Luzie nicht.
Auch bei Luzie und ihrer Mutter schien der Westen noch immer ein Thema zu sein, trotz der unrühmlichen Erfahrung mit ihrer Westverwandtschaft.
Als die Mutter gemeinsam mit Luzie und Miriam mal wieder still und heimlich Westfernsehen schaute, erfuhren sie, dass der Reiseverkehr zwischen Ost- und Westdeutschland gelockert wurde. Zumindest für Rentner. Rentner aus Ostdeutschland durften jetzt nach Westdeutschland reisen, um Bekannte oder Verwandte zu besuchen.
»Na fabelhaft«, rief Luzie aus dem Wohnzimmer ins Esszimmer, wo ihr Opa qualmend vor der Zeitung saß. »Absolut spitze. Dann können wir ja jetzt Opa losschicken, damit er uns erzählen kann, wie es im Westen so ist.«
»Ich will aber nicht«, kam es aus dem Esszimmer zurück. »Nicht alles ist gut, was man kann. Es ist immer die Frage, wofür oder wozu.«
»Dann fahren eben wir«, sagte Luzie und lachte.
»Wenn du Rentnerin bist, ja, dann können wir auch endlich in den Westen«, kam jetzt von der Mutter, die neben dem Bügelbrett stand und die Hemden ihres Vaters bügelte. »Bis dahin müssen wir warten. Warten bis wir alt und grau sind.«
»Mama, du könntest dich ja als Opa verkleiden«, sagte Luzie und kicherte.
Miriam kicherte auch und Luzies Mutter sah aus, als ob sie ernsthaft darüber nachdenken würde. Opa brüllte aus der Küche: »Mach endlich diese imperialistische Propaganda aus!«
* * *
»Nussknacker? Hörst du das?«
Klar hörte ich es. Schon seit Stunden. Es war ein leises, fast rhythmisches Summen, das sich ins schummrige Kinderzimmer drängte. Es kam von oben, von genau über uns.
Miriam sah
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