Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
Vom Netzwerk:
festhalten. Ich glitt ihr aus der Hand und flog durch die Luft. Mit einem Kopfsprung tauchte ich in das eiskalte Wasser des Atlantik, kam aber Sekunden später schon wieder hoch. Ich hörte, wie Ros nach mir rief. Ich schwamm im Wasser, aber sie konnte mich nicht sehen.
    Während die Rettungsboote sich langsam vom Schiff entfernten, neigte es sich immer mehr. Der Bug war jetzt fast ganz unter Wasser. Die Leute schrien verzweifelt um Hilfe. Aber wer hätte ihnen helfen können?
    Alle Boote waren jetzt im Wasser. Weit und breit war kein anderes Schiff zu sehen. An Bord brach ein entsetzliches Chaos aus. So stellte ich mir immer den Weltuntergang vor. Wobei nicht die Welt, sondern das Schiff dabei war, unterzugehen. Holz knirschte und krachte. Das Wasser überschwemmte einige der oberen Decks und drang überall ein. Der erste Kamin knickte wie in Zeitlupe ein, stürzte auf das Schiff und zermalmte alles.
    Der vordere Teil des Schiffes stand jetzt völlig unter Wasser. Dafür ragte der hintere Teil in die Höhe und stieg weiter, hob sich immer steiler. Plötzlich brach das Schiff mit einem ohrenbetäubenden Krachen entzwei. Der vordere Teil versank in den Tiefen des Meeres.
    Ich sah, wie die Menschen hin und her kullerten wie Billardkugeln. Sie glitten wie auf einer Rutschbahn nach unten. Schließlich stand das Heck so weit aus dem Wasser, dass es kerzengerade in den Himmel ragte. Die riesigen Schiffsschrauben waren zu sehen. Sie sahen wie gigantische Insekten aus, die sich aus Angst und Schock nicht mehr bewegen wollten.
    Langsam wurde jetzt auch das Heck vom Meer aufgesogen und schließlich verschluckt. Mit ihm wurde alles und jeder, der nichts Schwimmfähiges zu fassen bekam, auf den dunklen Grund des eisigen Ozeans gezerrt.
    Die Menschen, die in den weißen Schwimmwesten dem Untergang entkamen, aber keinen Platz in einem der Boote ergattern konnten, trieben im eiskalten Wasser neben mir. Ich sah, wie ihre Bewegungen bald schwächer wurden, weil ihre Körpertemperatur immer mehr sank. In ihren Haaren bildete sich Eis. Ihre Schreie wurden leiser, bis sie verstummten. Die Leute, die nicht mit dem Schiff versunken waren, erfroren.
    * * *
    Ich trieb immer weiter, bis ich schließlich nichts mehr sah, obwohl der neue Tag anbrach. Vor, hinter, neben und unter mir war nichts als Wasser. Über mir spannte sich der Himmel, der langsam heller wurde.
    Als endlich die Sonne aufgegangen war, plätscherte das Meer gespenstisch ruhig und ließ nichts von dem erahnen, was sich hier vor ein paar Stunden Grauenvolles abgespielt hatte. Alles war still und schien friedlich zu sein, als ob in Tausenden Metern Tiefe nicht das Wrack des Schiffes ruhen würde, das als unsinkbar gegolten hatte.
    Die Titanic .
    Die Sonne ging auf und wieder unter. Den Kopf fingerbreit über der Wasseroberfläche, blickte ich aus dem Ozean und ließ mich treiben. Was hätte ich auch anderes tun sollen? Dabei zählte ich die Sonnenaufgänge, manchmal auch die Sonnenuntergänge, bis ich ganz durcheinander war und mich heillosverzettelte, sodass ich irgendwo zwischen sechshundertzwanzig und sechshundertvierzig mit der Zählerei aufhörte.
    Ziemlich schnell ging mir das Herumschwimmen auf die Nerven. Es war auf die Dauer nicht nur eintönig, sondern auch sterbenslangweilig. Wohin das Auge blickte war nur Wasser, Wasser, Wasser. Und dann auch noch Salzwasser! Ich kam mir vor wie in einem überdimensionalen Kochtopf, in dem ich langsam aber sicher weich gekocht werden sollte. Und das bei eiskaltem Wasser. Bloß gut, dass ich nicht kälteempfindlich bin.
    Die ständige Planscherei hinterließ deutliche Spuren. Immer mehr Farbe blätterte von meinem Körper ab. Mein blauer Kittel verblasste zusehends. Große Placken schälten sich ab. Nur mein Gesicht, immer schön über dem Wasser, kam einigermaßen glimpflich davon.
    Als von Mantel, Stiefeln und Hemd fast nichts mehr übrig war, bekam auch noch das Holz Risse. Mir wurde augenblicklich klar, dass spätestens während der nächsten sechshundertzwanzig bis sechshundertvierzig Sonnenaufgänge mein schöner Nussknackerleib sich auflösen und auseinanderbrechen würde.
    Schöne Aussichten , dachte ich, legte mich auf den Rücken, starrte zum Himmel und ergab mich in mein Schicksal.

1914 – 1916, Flandern, Belgien
    Land!
    Das darf doch nicht wahr sein , dachte ich. Das gibt’s doch gar nicht!
    Gab es doch. Zumindest kam es mir so vor. Vielleicht war es aber auch nur eine arglistige Täuschung. Eine raffinierte Spiegelung

Weitere Kostenlose Bücher