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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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durcheinander. Als wir die Köpfe in den Spalt schoben, sahen wir den Kapitän und ein paar Offiziere,die ähnlich verwirrt schienen wie die Passagiere. Der Kapitän griff sich immer wieder an den Kopf, hob seine Mütze, kratzte sich und stöhnte: »Das darf doch nicht wahr sein!«
    »Ist es aber«, entgegnete einer der Offiziere. »Das Schiff läuft vom Bug her voll! Das Wasser ist bereits in die ersten sechs Abteilungen, in fünf Lagerräume und in den sechsten Boilerraum eingedrungen.«
    »Verdammt! Was jetzt?«, fragte ein anderer Offizier. Er nahm ein großes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich übers Gesicht.
    »Machen Sie die Schotten dicht! Alle wasserdichten Türen verschließen!«
    Der Kapitän sagte es ohne Panik, beinahe bedächtig. »Schießen Sie die Notraketen ab, und geben Sie einen SOS-Funkspruch durch.«
    »Schon geschehen! Das nächste Schiff ist achtundfünfzig Meilen von hier entfernt. Es bräuchte ungefähr vier Stunden, bis es hier ist.«
    »Vier Stunden? Wie lange können wir uns noch halten?«
    »Wenn die sechste Kammer vollläuft, vielleicht zwei Stunden.«
    »Verflixt!«, kam es so leise vom Kapitän, dass er kaum zu hören war. Er strich sich über den Bart und dachte nach. Dann sagte er ganz ernst und so, dass es alle versammelten Offiziere hören konnten: »Bereitmachen zur Evakuierung!«
    »Aber …«
    »Haben Sie nicht verstanden? Machen Sie die Rettungsboote klar«, sagte der Kapitän, diesmal lauter als zuvor. »Holen Sie die Leute aus den Kajüten.«
    »Alle?«
    »Alle!«
    »Aber die Rettungsboote reichen nicht aus.«
    »Was?«, hörte man ein paar Offiziere erstaunt sagen.
    »Es sind zu wenige«, sagte der Offizier, der noch immer mit dem Taschentuch sein Gesicht trocken zu reiben versuchte.
    »Wie viele haben wir denn?«
    »Zwanzig.«
    »Zwanzig?«
    »Und zweitausendzweihundertsieben Menschen an Bord.«
    »Das würde ja bedeuten, dass höchstens die Hälfte …«
    »… gerettet werden kann.«
    Wieder fluchte der Kapitän leise vor sich hin. Dann sagte er mit fester Stimme: »Kinder und Frauen zuerst. Und das Orchester soll spielen. Es darf keine Panik auf kommen. Beruhigen Sie die Passagiere. Sagen Sie, dass alles halb so schlimm ist, wie es aussieht.«
    Die Offiziere setzten ihre Mützen auf, salutierten und gingen los.
    »Nichts wie weg!«, zischte Doren.
    Wir rannten zurück auf Deck A. Der Kapitän blieb allein auf der Kommandoebene zurück.
    »Wir gehen unter!«, sagte Doren. »Wir saufen ab!«
    »Das glaube ich nicht, Papa sagt …«
    Wieder schien es Ros plötzlich peinlich zu sein, jetzt von ihren Eltern zu reden.
    »Ich weiß, unsinkbar!«, kam von Doren. »Aber vergiss es! Das Schiff wird untergehen!«
    Wie zur Bestätigung hatte sich der Bug bereits ein wenig geneigt. Das Schiff geriet in Schieflage.
    * * *
    Keine halbe Stunde später ging es auf allen Decks drunter und drüber. Die Leute liefen aufgeregt durcheinander. Vor allem die Passagiere der ersten Klasse wollten nicht glauben, was sich anzubahnen drohte. Sie hielten die Leuchtraketen nicht für Notsignale, sondern für ein Feuerwerk.
    »Wie bitte?«, fragte eine Frau in teurer Abendgarderobe und mit einem halb gefüllten Champagnerglas in der Hand sichtlich erheitert. »Sie machen Scherze, junger Mann! Dieses Schiff soll sinken?« Sie klang belustigt. »Ich bitte Sie! So große Eisberge gibt es gar nicht, die diesem Schiff auch nur einen Kratzer zufügen könnten.«
    Der Steward schaute sie irritiert an. »Ziehen Sie die Rettungsweste an, Madame!«
    Bald trugen die meisten Passagiere die weißen Westen. Die ersten Rettungsboote waren mit Frauen und Kindern gefüllt und warteten darauf, zu Wasser gelassen zu werden. Viele weigerten sich, in die Rettungsboote zu steigen. Sie waren nicht bereit, eines der kleinen Boote gegen das vermeintlich unsinkbare Schiff einzutauschen. Manche Passagiere mussten sogar gezwungen werden, in die Rettungsboote zu klettern.
    Ein Steward packte zuerst Ros, dann Doren, und setzte sie in eines der Boote, die an dicken Seilen hingen und mithilfe von Winden langsam an der Schiffswand entlang heruntergelassen wurden. Es schaukelte und ruckelte.
    »Halt dich gut fest!«, rief Doren.
    Ros nickte nur und krallte sich mit einer Hand am Bootsrand fest, mit der anderen hielt sie mich. Mir wurde übel. Ich merkte, wie Ros’ Hand trotz der Kälte schwitzte.
    Das Boot stieß plötzlich gegen die Schiffswand. Alle schrien auf. Wir bekamen Schräglage, und Ros konnte mich nicht mehr

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