Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Luft. Handgranaten flogen durch die Nacht und explodierten nicht weit von uns mit lautem Getöse.
»Feuer!«, brüllte der Kommandant.
Alle schossen wahllos in die Dunkelheit, aus Angst vor dem Tod und in der Hoffnung, durch eigenes Schießen selbst nicht getroffen zu werden. Es war ein Höllenlärm. Wir waren von Heulen und Jaulen, Krachen und Donnern, Fluchen und Geschrei umgeben. Die Erde schien zu beben. Die Schützengräben drohten einzustürzen und die Soldaten unter herabfallendem Dreck zu verschütten.
»Alle raus!«, befahl der Kommandant. »Angriff!«
Die Soldaten kletterten aus dem Schützengraben und über die Brustwehr. Sie sprangen über Drahtverhaue, Sandsäcke und Stacheldraht und stolperten mit dem Gewehr vor der Brust auf den Feind zu. Oder vielmehr auf die Kugeln und Granaten, die ihnen von der feindlichen Seite entgegenkamen.
Auch August und Franz stürmten voran. Ich war noch immer in Augusts Manteltasche und machte mir vor Angst beinahe in die Hose. Kugeln und Granaten flogen mir um den Kopf. Ich kam mir vor wie in einem Taubenschwarm auf einemMarktplatz, nachdem jemand in die Hände geklatscht hatte. Vor meinen Augen wurden Männer von Granaten zerrissen. Blut spritzte, Körper flogen durch die Luft. Ich schloss die Augen und hörte nur noch Detonationen und Schreie. Es war entsetzlich! Es war grauenvoll! Es war ein Albtraum! Die Hölle!
»In Deckung!«
August warf sich bäuchlings auf den Boden. Ich landete mit ihm zusammen kopfüber im Schlamm. Die Soldaten robbten durch den Dreck in Deckung, bis sie hinter Sandsäcken oder in tiefen Granatenkratern zeitweilig Schutz fanden. Da blieben sie dann liegen, bis die Schüsse weniger wurden und schließlich ganz verstummten.
Über dem Schlachtfeld, das eingehüllt war von Dampf und Rauch, schwebte eine gespenstische Stille. Totenstille.
Langsam ging die Sonne auf. Feuchter Nebel behinderte die Sicht. Franz lag nicht weit von August und mir entfernt. Immer wieder fragten sie sich gegenseitig: »Bist du noch da?«, und jedes Mal waren sie erleichtert, wenn der andere »Ja!« antwortete.
* * *
August und Franz hatten es überlebt. Auch ich kam glimpflich davon. Doch die halbe Kompanie hatte es erwischt. Die meisten Männer waren sofort tot gewesen, von Granaten zerfetzt oder von Kugeln tödlich getroffen. Sie lagen zwischen den Fronten in einem Streifen, der Niemandsland hieß. Die Verletzten starben unter Qualen. Über Stunden hinweg lagen sie mit dem Gesicht in Dreck und Schlamm, vor Schmerzen schreiend, ohne dass ihnen jemand helfen konnte.
»Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es auch uns erwischt«,sagte August und wischte sich den kalten Schweiß aus dem Gesicht, als wir zurück in einem der Reservegräben waren. August lag auf einem harten Lattenrost und versuchte zu schlafen. Es misslang.
August war verzweifelt. Wieder einmal erfasste ihn eine düstere Stimmung. Franz versuchte ihm dann jedes Mal Mut zu machen. Er sagte, dass alles bald vorbei sei, und dass sie das Schlimmste überstanden hätten.
Doch je länger der Krieg dauerte, desto unglaubwürdiger wurden Franz’ Aufmunterungen. Bis auch ihn schließlich die düstere Stimmung erfasste und beide meist nur noch schweigend, jeder mit den eigenen Albträumen beschäftigt, auf dem Lattenrost lagen und die alles durchdringende Feuchtigkeit am Körper spürten.
»Schläfst du, August?«
»Nein, du?«
»An was denkst du?«
»Immer an dasselbe. Und du?«
»Auch.«
Was das war, konnte selbst ich schnell erraten. Beide dachten daran, dass in ein paar Tagen Weihnachten war, und sie lagen hier im Schlamm und fraßen Dreck, während zu Hause die Lieben sehnsüchtig auf sie warteten und sich schreckliche Sorgen machten.
Mit diesen Gedanken dösten sie unruhig ein, bis die Läuse unter der Uniform und das steigende Wasser in den Gräben sie aus dem Schlummer rissen.
»Fröhliche Weihnachten!«, sagte Franz. Er hielt einen kleinen Tannenbaum in der Hand, an dem Kerzen festgemacht waren, und stellte ihn auf die Brustwehr am Schützengraben.
»Hässliche Weihnachten!«, entgegnete August. »Das sind die hässlichsten Weihnachten, die ich je erlebt habe.«
Weihnachten 1914 an der Westfront, im Schützengraben, in Flandern, hätte ich ergänzen können.
Franz zündete die Kerzen an. Andere Soldaten, die ebenfalls kleine Bäume und Zweige brachten, taten es ihm gleich. So versuchten sie sich wenigstens ein bisschen Heimat zu bescheren, ein ganz klein wenig von zu Hause, trotz der
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