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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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auf der Wasseroberfläche. Eine Fata Morgana auf hoher See.
    Ich schloss die Augen – einundzwanzig, zweiundzwanzig – und schlug sie wieder auf.
    Es war noch immer da: Land!
    Nach mehr als sechshundert Sonnenaufgängen und -untergängen glaubte ich das erste Mal, weit am Horizont, tatsächlich Land zu sehen. Land, das immer näher kam.
    Nach einem weiteren halben Tag war klar, ich schwamm tatsächlich auf Festland zu.
    Plötzlich hatte ich Boden unter den Füßen. Eine Welle schwappte mich an Land.
    Ich lag im Sand. Es war ein diesiger Morgen und sehr kalt, denn es war Winter, und es roch nach Schnee.
    Da saß jemand auf dem Boden, ganz nahe am Wasser, ohne sich zu bewegen. Er trug eine Uniform und darüber einen Militärmantel, so viel konnte ich erkennen. Er saß im Schneidersitz im Sand und starrte auf das Wasser, den Blick in die Ferne gerichtet, ohne einen Mucks von sich zu geben.
    Vielleicht ist er eingeschlafen , dachte ich, oder er meditiert. Oder ist vielleicht sogar tot? Doch plötzlich neigte sich sein Kopf ein wenig, als hätte der Mann meine Gedanken erahnt, obwohl er mich noch gar nicht entdeckt hatte. Er richtete den Blick auf seine Knie. Darauf lagen, wie ich erst jetzt erkannte, mehrere Blatt Papier, die sich leicht im Wind bewegten.
    Der Mann schien irgendetwas auf das Papier zu kritzeln. Bis er seinen Blick wieder hob und hinaus aufs Meer schaute.
    So ging es noch eine ganze Weile. Immer wieder senkte er den Blick, kritzelte aufs Papier und schaute dann wieder aufs Meer hinaus. So lange, bis er innehielt und in meine Richtung blickte, als wollte er »Hallo!« sagen, oder »Na, wie geht’s?«.
    Dann erhob er sich. Langsam kam er auf mich zu, bis er direkt vor mir stand und auf mich hinunterblickte.
    »Na, was haben wir denn da?«, sagte er in einem leicht spöttischen Tonfall, beugte sich zu mir nieder, fischte mich aus dem Sand und pustete mir mehrmals ins Gesicht und auf den Leib, dass es kitzelte.
    »Du bist ja ein Prachtstück! Bisschen ramponiert, aber das sind wir ja alle, nicht wahr?«
    Jetzt sah ich seine Uniform genauer. Er hatte recht. Auch er schien schon bessere Tage gesehen zu haben. Seine Hose und Jacke waren zerschlissen und verdreckt. An der Brust hingenFetzen herab. An den Knien hatte die Hose Löcher. Nur der Mantel war ein bisschen besser in Schuss.
    »Wo kommst du denn her?«
    Das hätte ich ihm schon sagen können, obgleich es in seinen Ohren wahrscheinlich sehr unglaubwürdig geklungen hätte.
    Er lachte. »Du siehst ganz schön mitgenommen aus!«
    Das kann man wohl sagen , dachte ich. Mitgenommen im wahrsten Sinne des Wortes. Mitgenommen vermutlich über Tausende von Kilometern. Bis hierher. Wo war ich hier überhaupt?
    »Wenn das kein gutes Omen in dieser verfluchten Situation ist!«
    Der Mann lachte erneut, aber es konnte genauso gut ein Weinen gewesen sein. Irgendwie hörte es sich verblüffend ähnlich an. Er drückte mich kurz an sich. Ich hörte, wie sein Herz so schnell schlug, als wollte es davonlaufen.
    Was meint er mit Omen? , fragte ich mich. Von was für einer verflixten Situation redet er?
    Er ging zurück zu seinem Block und stellte mich neben eine Pickelhaube in den Sand. Ich konnte jetzt von der Seite einen Blick auf seinen Block werfen. Das Papier war vollgeschrieben. Dazwischen sah ich kleine Zeichnungen. Landschaften, das Meer und Sonnenaufgänge waren in bewegten Strichen auf die Seiten geworfen. Wild, manchmal chaotisch, aber immer ausdrucksvoll. Ganz anders als die Bilder, die ich an den Wänden der Salons und Suiten der Titanic gesehen hatte. Das war ein ganz anderer Stil. Aufregend und neu.
    »Da schaust du, was?«
    Kann man wohl sagen , dachte ich.
    »So was hast du noch nicht gesehen, was?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Gibt es auch noch nicht lange«, sagte der Mann. »Und ich bin der Erfinder.«
    Er schmunzelte, und seine Augen leuchteten.
    »Na ja, nicht ganz alleine. Aber immerhin gehöre ich dazu. Nicht schlecht, was?«
    Und wie nennt sich das? , wollte ich fragen.
    Als hätte er meine stumme Frage gehört, sagte er: »Expressionismus. Das ist das Einzige, was von uns bleiben wird. Falls überhaupt etwas bleibt.«
    Er legte den Block wieder auf seine Knie. Dann nahm er den Stift in die Hand, der die ganze Zeit hinter seinem rechten Ohr geklemmt hatte, und schaute wieder hinaus aufs Meer. Leise murmelte er vor sich hin. Ich musste schon gut zuhören, um seine Worte zu verstehen.
    »Du bist mitten im Kriegsgebiet gestrandet, mein Lieber«,

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