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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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sagte er und meinte offenbar mich. »Wie ich. Im August habe ich mich freiwillig gemeldet. Ich Idiot! Freiwillig, stell dir vor! So dämlich muss man erst mal sein. Ein Abenteuer sollte es werden, und ein Albtraum ist es geworden. Ein, zwei Monate, dann ist alles vorbei, hieß es. Fürs Vaterland kämpfen. Lange kann es nicht dauern, hieß es, dann ist der Krieg zu Ende, und du bist um Erfahrungen reicher. Denkste! Jetzt ist bald Weihnachten, und ich bin noch immer nicht zu Hause bei Sophie. Sophie ist meine Verlobte, weißt du, und Paul ist mein Bruder. Wie ich die beiden vermisse! Ich sitze noch immer hier und warte darauf, mich totschießen zu lassen oder andere totzuschießen. Das ist doch verrückt. Dabei könnte ich zu Hause in meinem Atelier sein und die schönsten Bilder malen. Bilder,die die Welt noch nicht gesehen hat. Stattdessen sitze ich hier und sehe eine Welt, wie ich sie mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen konnte.«
    Er kratzte sich zwischendurch immer wieder am Kopf.
    »Läuse! In meinen Haaren wimmelt’s von den Biestern. Nachts werde ich fast wahnsinnig. Es fühlt sich an, als wäre der ganze Körper unterwegs, würde sich in Bewegung setzen, Millimeter für Millimeter. Ein Krabbeln und Wuseln, da kriegst du kein Auge zu. Am nächsten Morgen bist du dann so müde, dass du im Stehen einschläfst. Und das kann tödlich sein. Hans hat es vorgestern erwischt. Toni gestern. Und wen die Kugel nicht umbringt, der krepiert an der Kälte oder dem Dreck. So ein Wahnsinn!«
    Wieder kratzte er sich, schaute dann auf seinen Block und kritzelte wieder drauflos. Irgendwie beschlich mich das Gefühl, dass dieser junge Soldat die Worte gar nicht wirklich an mich richtete, dass er das alles gar nicht mir erzählte. Aber wem dann? Sich selbst? Oder legte er sich die Worte zurecht, um sie seiner Sophie in einem Brief mitzuteilen? Oder Paul, seinem jüngeren Bruder?
    Es wurde kälter. Ein eisiger Wind pfiff übers Wasser an Land. Der Mann knöpfte seinen Mantel zu. Er wollte wieder aufs Meer hinausschauen, als plötzlich aus der Ferne eine Stimme zu hören war.
    »August!«, rief jemand. Es kam vom Festland her. »August!«
    August steckte den Stift wieder hinter das Ohr, stand auf und blickte auf einen Mann, der schreiend und auffällig schnell näher kam. Er war fast noch ein Junge, ungefähr so alt wie August, vielleicht sechzehn Jahre. Auch er trug eine Uniform, ähnlich verdreckt und in ähnlich erbärmlichem Zustand.
    »Was ist los, Franz?«, fragte August, als der Junge bei uns angekommen war, schon etwas außer Atem.
    »Komm, es geht weiter!« Er spuckte in den Sand, mehr aus Erschöpfung als aus Verachtung, und stützte beide Arme auf die Knie. Leise und wie für sich sagte er: »Der Frontabschnitt wird wieder ein Stück nach vorne verlegt.«
    »Verdammt!«
    »Ja.«
    August stopfte mich in die rechte Tasche seines Mantels. In die andere Tasche steckte er den Block und setzte die Pickelhaube auf. Dann gingen beide langsam in die Richtung, aus der Franz gekommen war.
    * * *
    Der Schützengraben war zwei Meter tief und kniehoch mit schmutzigem Wasser und Schlamm gefüllt. Hin und wieder kreuzten fette Ratten die Wege.
    August und Franz standen seit Stunden mit durchnässten Schuhen, Frostbeulen an den Zehen und blauen Fingern im breiigen Morast. Ihre Gewehre lagen im Anschlag auf der Brustwehr. Beide warteten ungeduldig, was passieren würde. Die Feinde, die Barbaren – so lautete die Bezeichnung, wenn über die Soldaten auf der anderen Seite geredet wurde, die Briten, Franzosen und Belgier –, waren nicht weit von ihnen entfernt, ebenfalls in Schützengräben verbuddelt, und warteten auch. Meist bis es dunkel wurde. Dann ging die Schießerei los. Dann begann das Töten.
    Bis dahin aber musste stundenlang gewartet und gefroren werden, während das Wasser von unten im Graben stieg und es von oben meistens regnete oder schneite.
    Nach Stunden der Angst und Ungewissheit war die Sonne schließlich verschwunden. Bleierne Finsternis lag über den Gräben. Dazwischen kroch die Kälte in die Glieder der Männer und ließ die übermüdeten Körper zittern. Es roch ekelhaft nach Kloake und Urin, Verwesung und Verfaultem. Ein unerträglicher Gestank kroch durch die Luft. Ein Geruch nach Tod. Nach zurückliegendem und bevorstehendem.
    Eine beklemmende Ruhe hangelte sich über die Wartenden hinweg, bis mit einem Mal Gewehrsalven vom Himmel prasselten wie Regen. Kugeln schwirrten zischend durch die

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