Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
die beiden Zeugen ihrer Auseinandersetzung loszuwerden.
»Danke.«
»Wisst ihr, wo ihr hinmüsst?«, fragte Kerstin.
Klemens nickte, obwohl er und Vincent keinen blassen Schimmer hatten. Aber mit den zwei Zankhühnern wollten sie nicht unbedingt auch noch den Abend und die Nacht verbringen.
Sie stiegen aus und sahen kurz darauf die Rücklichter der Ente in der Ferne verglühen.
* * *
Wir irrten planlos durch das Hamburger Stadtviertel St. Pauli, bis Klemens und Vincent vor einem Schaufenster der Post stehen blieben. Sie blickten wie gebannt auf ein schwarz-weißes Plakat, das im Schaufenster neben der Tür hing.
Dringend gesuchte Terroristen. 800 000 DM Belohnung , stand in dicken schwarzen Buchstaben als Überschrift auf dem Plakat. Darunter war zu lesen: Im Zusammenhang mit dem dreifachen Mord an Generalbundesanwalt Buback und zwei seiner Begleiter am 7. April 1977 in Karlsruhe und an dem Mord an Jürgen Ponto am 30. Juli 1977 in Oberursel werden gesucht …
Dann kamen viele Gesichter von jungen Frauen und Männern, die in Kästchen eingerahmt waren. Das Bild der jungen Frau – die Dritte von rechts – kam Klemens und Vincent verdammt bekannt vor.
»Das ist doch …« Vincent wurde ganz blass.
»Judith!«, rief Klemens.
Beide starrten auf das Bild ihrer Schwester, als hätten sie eine Außerirdische vor sich.
»Was macht denn Judith auf diesem …« Vincent schien esnicht glauben zu können. »Sie ist doch keine Terroristin! Judith hat doch niemand umgebracht, oder?«
Klemens hob in einer Mischung aus Resignation und unwissenheit die Schultern. Beide sahen aus, als würden sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Ich erkannte weitere Gesichter auf dem Plakat. War das unten links nicht der Bruder der Zwillinge? Jetzt, ein paar Jahre älter? und daneben seine Freundin?
»Kopf ab«, hörten wir plötzlich eine Stimme hinter uns, die sich wie das Rattern eines Maschinengewehrs anhörte. Die beiden Jungs drehten sich um und sahen einen älteren Mann mit einem Parka und einem Hut auf dem Kopf vor sich stehen. Er zeigte auf das Plakat. »Wenn man die kriegt, sollte man kurzen Prozess mit denen machen.« Damit es auch unmissverständlich war, fügte er hinzu: »Kopf ab.« Er sah nicht gerade friedfertig aus. »Was anderes haben diese Schweine nicht verdient.« Er spuckte an den beiden Jungs vorbei auf die Gesichter hinter der Scheibe.
Dann war der Mann verschwunden. Die Spucke lief langsam über Judiths Gesicht bis zum unteren Rand des Plakats, wo stand: Hinweise nimmt das Bundeskriminalamt in Bonn Bad Godesberg entgegen.
* * *
Wie benommen taumelten die beiden durch die beleuchteten Straßen von St. Pauli. Mit traurigem Blick, die Köpfe gesenkt und schweigend. Die glitzernden und flackernden Reklameschilder der Bordelle und Bars sahen unwirklich aus, wie aus einer fremden Welt. Prostituierte standen leicht bekleidet und mit hochhackigen Schuhen auf den Bürgersteigen und sahenähnlich traurig aus wie Klemens und Vincent. Sie wagten es nicht, die Brüder anzusprechen. Sie strahlten eine Verlorenheit aus, die Angst machte.
Als sie stundenlang in den dunklen Gassen herumgeirrt waren, fragte Vincent schließlich: »Was machen wir jetzt?«
Der ältere Bruder schien genauso ratlos. »Weiß nicht.«
Sie setzten sich in der Nähe des St.-Pauli-Stadions am Millerntor auf eine Parkbank, bis sie völlig übermüdet einschliefen.
* * *
Am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang fuhren sie mit der S-Bahn an den Rand von Hamburg. Sie stellten sich wieder an eine Straße neben eine Bushaltestelle und hielten den Daumen in die Luft.
Nach einer halben Stunde setzte Regen ein. Der Asphalt roch nach Sommer und färbte sich dunkel. Die Luft schmeckte nach nicht eingehaltenen Versprechungen, und der Wind wehte ihnen direkt ins Gesicht. Wasserpfützen bildeten sich am Straßenrand.
Ich hatte das Gefühl, dass die beiden jetzt lieber zu Hause gewesen wären, als an dieser zugigen Straße zu stehen, an der zahllose Autos vorbeifuhren. Doch keines blieb stehen. Einige Fahrer lachten schadenfroh, andere schüttelten den Kopf. Kinder, die auf der Rückbank saßen, sahen zur Heckscheibe hinaus und zogen Grimassen. Einer zeigte sogar den Stinkefinger. Die Reifen der vorbeifahrenden Wagen sangen. Es war eine pfeifende Melodie, die gar nicht zu dieser aussichtslosen Situation passte.
Nach einer Stunde stellte sich ein anderer Junge zu den beiden. Er war ungefähr so alt wie Klemens, spindeldürr und mit schulterlangen
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