Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
schließen, als Klemens fragte: »Wo wohnt sie denn jetzt?«
Der Mann blickte die beiden misstrauisch an. »Warum wollt ihr das wissen?«
»Wir sind ihre Brüder.«
Der Mann schien zu überlegen und kratzte sich mit der einen Hand unter der Achsel. Dann stieß er mit der anderen Hand die Tür ganz auf.
»Na, kommt rein.«
Sie gingen einen langen Flur entlang, von dem mehrere Zimmer abgingen, bis zur Küche. Der Mann deutete auf einen Tisch, an dem Stühle standen. Klemens und Vincent setzten sich. Der Mann nahm ebenfalls Platz und drehte sich eine Zigarette. Währenddessen sagte er: »Judith wohnt nirgends.«
»Wie das denn?«, fragte Vincent verwirrt.
»Sie ist abgetaucht.«
»Abgetaucht?«
»Von der Bildfläche verschwunden«, sagte der Mann, der noch immer seine Zigarette drehte. »Ist sicherer.« Es klang ganz selbstverständlich, als würde man so etwas jeden Tag machen.
»Sicherer?«
Der Mann blickte die beiden ernst an. »Rede ich undeutlich, oder habt ihr was an den Ohren?« Er schleckte mit der Zunge an der Gummierung des Zigarettenpapiers entlang. »Judith wird gesucht. Von den Bullen«, fügte er hinzu, stand auf und ging zu einem Buffet aus Holz. Er öffnete ein mit Glas eingefasstes Türchen und nahm einen Aschenbecher heraus.
»Warum denn?« Klemens konnte es nicht fassen. Auch Vincent starrte den Mann an, als ergäben dessen Worte keinen Sinn.
»Warum?« Der Mann setzte sich wieder und stellte den Aschenbecher vor sich auf den Tisch. »Weil sie dieses System bekämpft.«
Er zündete die Zigarette an, zog zweimal hintereinander und klopfte die Asche am Aschenbecher ab.
»Habt ihr schon mal von der RAF gehört?«
Mir fiel ein, dass ich diese Frage heute schon einmal gehört hatte, und zwar von Moni.
Klemens und Vincent wurden blass. Das schien auch der Mann zu merken. »Was ist?«
»Nichts.«
»Also gut, bis morgen könnt ihr bleiben. Aber dann seid ihr wieder verschwunden, klar?«
»Klar.«
Er stand auf. »Kommt mit.«
Sie folgten ihm von der Küche in eine Art Wohnzimmer, in dem mehrere Sofas standen.
»Hier könnt ihr pennen.«
»Danke.«
»Schon okay.«
Der Mann wollte in die Küche zurück, blieb aber im Türrahmen stehen und drehte sich zu den beiden um.
»Wenn ihr wollt, könnt ihr nachher mit ins Kino. Ich bin da Vorführer. Ihr kommt umsonst rein. Da läuft ein brandneuer Streifen mit Robert De Niro, Taxi Driver. Schon mal gehört?«
»Klar«, sagte Klemens.
Ich wusste, es war gelogen.
* * *
Der Film war ziemlich heftig. Er zeigte das Leben eines Taxifahrers in New York, den Robert De Niro spielte. Er war einsam, und die Gewalt und der Schmutz der Stadt widerten ihn an. Er steigerte sich immer mehr in seine Wut hinein, während er in seinem gelben Taxi durch die New Yorker Nacht fuhr und seltsame Typen beförderte. Er selbst war der Seltsamste von allen.
Irgendwann spürte er Iris auf, ein junges Mädchen, das als Prostituierte arbeitete. Jodie Foster spielte diese Rolle. Travis versuchte sie auf den rechten Pfad zurückzuführen, doch Iris wollte nicht.
Iris: »Warum soll ich wieder bei meinen Eltern wohnen? Die hassen mich. Was glaubst du, warum ich abgehauen bin? Zu Hause ist es schrecklich.«
Travis: »Aber das hier ist kein Leben für dich. Das ist die Hölle. Ein junges Mädchen gehört nach Hause. Du Küken gehörst nach Hause, verdammt noch mal. Du solltest hübsch rausgeputzt sein, mit netten Jungs flirten und in die Schule gehen. Wie alle kleinen Mädchen.«
Iris: »O Gott, bist du spießig!«
Travis: »Ich bin nicht spießig. Du redest völlig verdreht, du redest nur Scheiße. Du weißt doch gar nicht, wovon du sprichst. Du gehst mit Idioten, Strolchen und dem ekelhaftesten Gesindel ins Bett, und für wen verkaufst du dich? Für nichts! Für einen miesen Zuhälter! Findest du das schick? In welcher Welt lebst du eigentlich?«
Irgendwann fand Travis sich dann in seiner Welt nicht mehr zurecht und drehte durch. Er steigerte sich immer mehr inseinen Wahn hinein und verlor dabei zunehmend den Boden unter den Füßen. Es war ein brutaler, blutiger und schockierender Film.
Klemens und Vincent empfanden es offenbar ähnlich. Auf dem Nachhauseweg gaben sie keinen Mucks von sich. Erst als sie auf den Sofas lagen und sich den Rucksack von Moni vorknöpften, sagte Vincent: »Meinst du, wir sollten den Alten mal anrufen?«
»Was? Warum denn?«
»Vielleicht macht er sich Sorgen.«
»Quatsch, der doch nicht.«
»Du meinst, er ist vielleicht sogar froh, dass
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