Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
es wie eine Verheißung.
»Und wo ist das?«
»Hier in Dänemark, in Kopenhagen.« Der Mann klang ähnlich vielversprechend. »Es ist ein selbstverwalteter Freistaat. So was habt ihr noch nie gesehen!«
Die beiden sollten recht behalten.
* * *
Mitten in Kopenhagen lag auf einem alten Militärstützpunkt tatsächlich ein sogenannter Freistaat. Das Gelände mit den Kasernen war von vor allem jungen Menschen ohne Erlaubnis der Stadt besetzt worden, und die Stadt ließ die jungen Leute gewähren. Der Freistaat hatte eigene Gesetze, kein Privateigentum und lebte vom Tauschhandel. Es war eine Kolonie, in der der Traum vom freien Leben und einer alternativen Gesellschaft nicht nur geträumt, sondern gelebt wurde, wie es schien.
»Und das seit sechs Jahren«, wie der Mann am Steuer mit glänzenden Augen zur Rückbank hin verkündete. »Stellt euch das mal vor!«
Er parkte den Renault vor der roten Staatsflagge mit den drei gelben Punkten.
Überall in Christiania waren Hippies, Künstler, Hausbesetzer und andere Außenseiter zu sehen. Die meisten – sowohl Frauen als auch Männer – hatten lange Haare. Bei den Männern waren außerdem dichte Bärte in Mode.
»christiania ist ein Experiment«, sagte die Frau mit leuchtenden Augen. »Schaut euch einfach um. Ihr könnt hier bleiben, so lange ihr wollt.«
Wir wollten. Und wir schauten uns auch um. Wer würde nicht an einem Experiment teilnehmen, bei dem es nur einen Grundsatz gab: »Du kannst machen, was du willst, solangedu keinem anderen in die Quere kommst, der machen will, was er will.«
Das sollte sich einrichten lassen. Es gab hier in Christiania keine Gewalt, viel Liebe und ein entspanntes Leben. Manche renovierten die besetzten Häuser, andere lagen in der Sonne, und wieder andere rauchten den ganzen Tag irgendwelches Zeug, das abscheulich stank, und kicherten vergnügt dabei.
Was für ein Leben! , dachte ich. Ein wenig ist es wie im Paradies. Oder wie ich mir das Paradies in meinem Holzkopf so vorstelle.
Der einzige Haken an diesem Leben war, dass alles in diesem Freistaat – in dem etwa tausend meist junge Menschen und viele Kinder lebten – diskutiert werden musste. Entscheidungen wurden erst getroffen, wenn alle dafür waren. Oder zumindest keiner dagegen. Das war weniger paradiesisch, sondern ziemlich anstrengend. Danach schwirrte einem dann schon mal der Kopf, und der unterkiefer lahmte vom vielen Reden. Es war eine absolute Demokratie in Christiania, bei der Zusammenhalt und das Füreinander-da-sein im Vordergrund standen.
Auch Klemens und Vincent schienen sich hier wohlzufühlen. Sie zogen in ein Haus ein, das von mehreren Erwachsenen und einigen Kinder bewohnt wurde. Tagsüber halfen sie ein paar Stunden, wann immer sie Lust hatten, die ziemlich baufällige Hütte zu reparieren, das Dach zu flicken oder Tür- und Fensterrahmen bunt anzumalen. Ansonsten stromerten sie über das Areal und erkundeten, was es zu erkunden gab. Oder sie schauten den anderen beim Werkeln zu. Oft legten sie sich einfach ins Gras und ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Den spindeldürren Jungen mit den schulterlangenHaaren trafen sie auch ab und an. Jedes Mal, wenn er sie sah, quatschte er auf sie ein, als wären sie eine Notrufsäule. Anfangs waren Klemens und Vincent von ihm genervt. Irgendwann aber gewöhnten sie sich an ihn und konnten sich sogar über seinen Mitteilungsdrang amüsieren.
Irgendwie war es ziemlich angenehm in diesem Freistaat. Dann wieder schien es, als stünde die Zeit still, und wir würden auf der Stelle treten.
Der Inbegriff der Jugend , dachte ich, und das Schicksal eines Nussknackers.
* * *
Als wir ungefähr zwei Wochen in Christiania waren und Klemens und Vincent gerade hinter dem Haus im verwilderten Garten auf dem Rücken lagen und in die Sonne schauten, tauchte plötzlich ein Gesicht über ihnen auf und legte sich als Schatten auf sie.
»Hi!«
Die beiden richteten sich auf und hielten die Hand als Sonnenschutz vor die Augen. Dennoch erkannten sie das Gesicht sofort.
Moni! Es war Moni, die neben ihnen stand und jetzt dreckig lachte.
»Und wie findet ihr Sylt?«, fragte sie, zog dabei ihr T-Shirt aus und legte sich mit nacktem Oberkörper auf den Rücken neben die Brüder ins Gras.
»Geil«, sagte Vincent. Wobei nicht ganz klar war, ob er diesen Freistaat hier meinte, oder eher Monis Auftritt.
»So geil wie ein Studium in Köln«, sagte Klemens, ohne dass die beiden sich trauten, die halbnackte Moni
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