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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Schwester Judith denken musste. Dabei wurde er immer trauriger. Beim Anblick seines Bruders und Moni hingegen schien er immer wütender zu werden. Eine explosive Mischung: Trauer und Wut.
    Als es dunkel wurde, standen Moni und Klemens auf und verschwanden kurze Zeit später in Monis Behausung. Vincent lungerte noch eine Weile davor im Dunkeln herum, während in einem Zimmer im zweiten Stock eine Kerze angezündet wurde. Vincent war offenbar unschlüssig, was er mit dieser Erkenntnis anfangen sollte. Dann ging auch er nach Hause, legte sich ins Bett und konnte lange Zeit nicht schlafen.
    Es war die erste Nacht, in der Klemens nicht zu Vincent nach Hause kam.
    Für Vincent schien nun klar zu sein, was die Stunde geschlagen hatte. Er hatte von der selbstbestimmten Freiheit endgültig die Nase voll.
    »Ich will nach Hause«, sagte er zu sich selbst, als er am Abend auf der Matratze lag. »Aber vorher muss ich noch was erledigen.«
    * * *
    Die nächsten vier Wochen verbrachte Klemens fast jede Nacht bei Moni. Manchmal sah Vincent seinen Bruder tagelang nicht. Er wollte ihn auch nicht sehen. Er wollte eigentlich gar nichts mehr, hatte ich den Eindruck. Meist lag er den ganzen Tag wie gelähmt auf der Veranda, im Gras oder auf einer verdreckten Matratze unter dem Dach des Hauses. Er war mürrisch, redetemit kaum jemandem und zog sich völlig in sich selbst zurück. Irgendwie erinnerte er mich an die Zwillinge aus München. Die hatte ich allerdings ziemlich gut verstehen können. Vincent verstand ich nicht so ganz.
    Die Ereignisse in der Welt und somit auch in Christiania überschlugen sich. Mitte Oktober wurde eine Lufthansamaschine entführt. Dadurch sollten die Terroristen, die in Deutschland im Gefängnis saßen, freigepresst werden. Auf dem Flughafen im afrikanischen Mogadischu wurden die Geiseln schließlich befreit. Die Terroristen nahmen sich daraufhin im Gefängnis das Leben. Einen Tag später, am 18. Oktober 1977, wurde der noch immer entführte Arbeitgeberpräsident Schleyer ermordet im Kofferraum eines Autos gefunden.
    Die Christianier hatten sich alle um ein paar Fernsehgeräte herum versammelt und verfolgten interessiert die Nachrichten aus Deutschland. Nur Vincent hatte anderes vor. Er schlich über das Gelände und versicherte sich dabei, dass Moni und Klemens nicht zu Hause waren. Dann betrat er heimlich das leer stehende Haus, suchte ihr Zimmer auf und griff nach Kassiopeia. Er steckte sie in eine Jackentasche  – ich steckte in der anderen – und machte sich davon, ohne dass jemand ihn bemerkte.
    Ich sah ihm an, dass es ein endgültiger Abschied war.
    Vincent ging aber nicht auf direktem Weg zum Bahnhof oder zu einer Straße, die ihn aus Kopenhagen hinausführen sollte. Stattdessen schlenderte er mit gesenktem Kopf und mieser Laune zum Innenhafen der Stadt, nicht weit von Christiania entfernt.
    An der Christians Brygge holte er die Schildkröte aus der Tasche, beugte sich über das Geländer der Brücke und …
    »Tu’s nicht!«, wollte ich sagen.
    Zu spät.
    »Viel Glück in der Freiheit!«, sagte Vincent, als Kassiopeia schon ins Wasser des Innenhafens eingetaucht war.
    »Was machst du da?«, hörte ich eine schroffe dänische Stimme in Vincents Rücken.
    Vincent drehte sich um. Leider etwas zu schnell: Ich fiel aus seiner Jackentasche und flog in hohem Bogen der Schildkröte hinterher. Für einen unbeteiligten Beobachter musste es so ausgesehen haben, als wollte ich sie retten. Mitnichten. Ich konnte mich ja selbst nicht retten und schien verloren zu sein.
    »Verflucht!«, hörte ich Vincent noch rufen, dann verschwand auch ich im trüben Wasser.
    Als ich wieder auftauchte, war Vincent nicht mehr zu sehen. Angetrieben von den Wellen der Passagierbote, wurde ich aufs Meer hinausgetragen.
    Oh nein, nicht schon wieder, schoss es mir durch den Kopf, als ich an den Untergang der Titanic , an den Atlantik, an Flandern und die jahrelange, beschwerliche Odyssee auf hoher See dachte.
    Doch trotz lautem Klagen und unheilvoller Prophezeiung, trotz Bitten und Betteln trieb die Strömung mich immer weiter hinaus auf die kalte Ostsee.

1980 – 1983, Danzig, Polen, Finnland, Estland, Litauen, Norwegen, Sowjetunion
    Die meterhohen Wellen des Lastkahns, der an mir vorüberfuhr, tauchten mich immer wieder unter. Ich tauchte jetzt mehr, als dass ich schwamm.
    Und endete direkt am Haken einer Angel. Oder besser, der Haken verfing sich im Einschussloch an meiner Brust, dem Andenken aus dem Vietnamkrieg. Hilflos wie

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