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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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ein gefangener Fisch hing ich am Angelseil.
    Wer angelt denn mitten auf dem Meer? , fragte ich mich, als ich auch schon in einem Affenzahn durchs Wasser geschleift wurde. Dann flog ich aus dem Wasser heraus, segelte durch die Luft und baumelte schließlich an der dünnen Angelschnur, die über die Reling eines Lastkahns hinweg ins Meer gehalten wurde.
    Ich kam der Angel – vor allem dem Angler – immer näher. Es war ein Schiffsjunge mit weißer Schürze, einer Zahnlückean vorderster Zahnfront und einem Gesichtsausdruck wie aus dem Zweiten Weltkrieg. Neben ihm stand ein Eimer, in dem Fische um ihr Leben kämpften, das sie spätestens in der Schiffsküche verlieren sollten.
    Schnell war mir klar, dass der Junge der Schiffskoch sein musste. Oder eher die rechte Hand vom Koch. Denn für einen Koch schien er mir dann doch zu jung zu sein.
    Er betrachtete mich verdutzt, als würde er sich fragen, was für eine Sorte Fisch an seinem Angelhaken baumelte. Dann nahm er mich vom Haken, lächelte schelmisch, als hätte er die Sorte endlich erkannt, und warf mich zu meinem Entsetzen zu den Fischen in den Eimer.
    Ist der blöd? , dachte ich. Oder betrunken? So betrunken, dass bei ihm Nussknacker zu Fischen werden? Im nüchternen Zustand sieht doch jeder Depp, dass ich unmöglich ein Fisch sein kann, auch wenn ich schon seit Jahren im Meer herumschwimme!
    Die Fische rochen übel und ziemlich heftig nach  … nun ja, nach Fisch. Ich muss gestehen, Fische gehören nicht zu meinen ausgewiesenen Freunden. Ihr Geruch schon gar nicht. Mir wurde in ihrer Gesellschaft ziemlich schlecht.
    Ich war froh, als ich bald darauf in der Bordküche vom Schiffsjungen aus dem Eimer gefischt wurde. Er stellte mich auf ein Bord neben den Herd, wobei er wieder schelmisch grinste, als wollte er mir sagen: »Siehst du, ich bin doch nicht so blöd!«
    Dann beendete er das Leid und Wehklagen der noch immer zappelnden Fische, indem er jedem von ihnen mit dem Nudelholz auf den Kopf schlug, dass es krachte. Das war das Ende für die Fische und der Anfang für ein köstliches Fischgericht.
    Zumindest waren die Äußerungen der versammelten Schiffsmannschaft so zu deuten.
    »Mmh« und »Nam nam nam« und »Gutti, gutti, gutti« kam aus manchem Mund, nachdem der gebratene Fisch in demselben verschwunden war.
    Die Besatzung bestand aus neun Matrosen und einem Kapitän. Sowie dem Jungen mit der Zahnlücke, der auf diesem Schiff tatsächlich die Aufgabe des Kochs übernommen hatte. Allerdings nur vorübergehend, wie ich herausfand, da der eigentliche Koch vor Kurzem heimlich von Bord gegangen und nicht wiedergekommen war.
    Er hatte sich abgesetzt. Und zwar in Kopenhagen. Das Schiff, auf dem ich mich befand, war ein polnisches Schiff. Es war von Dänemark über Rostock unterwegs nach Danzig, beladen mit ostdeutschen Maschinen für die befreundete Volksrepublik Polen.
    »Köstlich!«
    »Besser, als Lech jemals gekocht hat.«
    Der Junge strahlte und stellte seine Zahnlücke bereitwillig zur Bewunderung aus, als wäre es ein kostbares Gemälde.
    »Gut gemacht, Jerzy!« Der Kapitän klopfte dem Jungen auf die Schulter.
    »Und was gibt es morgen?«
    »Nichts«, sagte Jerzy. »Da sind wir zu Hause.«
    Alle hämmerten mit den leeren Tassen auf den Tisch.
    * * *
    Am Abend fuhr das Schiff im Hafen von Danzig ein. Jerzy packte mich in die Tasche seiner Kochschürze, als hätte ihm bereits ein gemeinsamer Tag für den Beginn einer Freundschaftmit einem Nussknacker genügt. Vor mir lag die wunderschöne Stadt Danzig.
    Das Schiff sollte die Leninwerft mit Maschinen beliefern. Das schien aber gar nicht so einfach zu sein. Die Werft wurde nämlich bestreikt. Die Arbeiter wollten nicht so, wie ihre Chefs wollten. Sie hatten Forderungen, die diese wiederum nicht erfüllen wollten. Eine davon war, dass zwei entlassene Werftarbeiter, die Kranführerin Hanna Walentynowic und der Elektriker Lech Walesa, die in einer unabhängigen und freien Gewerkschaft tätig waren, wieder eingestellt werden sollten. Da es ziemlich viele Beschäftigte gab, legten sie einfach die Arbeit nieder und wollten erst weitermachen, wenn ihre Forderungen erfüllt waren. In Danzig war der Teufel los. Und nicht nur in Danzig, sondern in ganz Polen – in Stettin, Warschau, Breslau, Posen, Lodz und Krakau.
    Und nicht nur in Werften wurde gestreikt. Auch Straßenbahnen fuhren nicht mehr. Die Oper schloss sich dem Streik an, die universitäten, die Bergwerke. Ein »Zwischenbetriebliches Streikkomitee« wurde

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