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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Strichen und Farben, Zeichen und Formen. Ein Reich grenzenloser Fantasie und endloser Weite.
    Kira ließ sich in den Korbsessel fallen, die Augen noch immer weit aufgerissen. Ihre Netzhaut jubelte. In ihrem Kopf fingen die Bilder an, sich zu bewegen. Kira ließ sich von ihnen forttragen. Weg von hier, hinein in die galaktische Comicwelt-Umlaufbahn. Auch ich konnte mich den Figuren und Sprechblasen an der Wand nicht entziehen, so wenig wie dem Kassettenrekorder, der noch immer den betörenden Gesang im Zimmer verteilte. »…
    Berge explodieren, Schuld hat der Präsident, es geht voran! Berge explodieren, Schuld hat der Präsident, es geht voran! Graue B-Film-Helden regieren bald die Welt, es geht voran! Graue B-Film-Helden regieren bald die Welt, es geht voran! Es geht voran! Es geht voran …!«
    Dann summte es plötzlich, und mit dem Summen verschwanden alle Figuren an der Wand. Wir waren wieder zurück in diesem Zimmer.
    Was ist das denn? , dachte ich. Auch Kira schien zurück aus der Comicwelt zu sein. Sie erschrak und riss die Augen auf.
    Alles war ruhig und dunkel. Nur drei helle Flecken tanzten an der Decke. Kira lauschte, immer noch ziemlich verschlafen. Und tatsächlich, wenn wir die Ohren spitzten, konnten wir ein vibrierendes Geräusch hören.
    »Das ist irgendwo im Haus!«
    Kira stand benommen auf und tastete sich durchs Zimmer.
    »Komm!«, sagte sie, griff nach mir und ging voraus.
    Zuerst schlichen wir ins Treppenhaus. Das Geräusch wurde lauter. Das Summen löste sich in einzelne Klänge auf.
    »Das ist drüben! Das ist bei Poschmann.«
    Vorsichtig schob Kira die Eingangstür auf. Der Flur lag im Finstern. Auf Zehenspitzen schlichen wir über die knarrenden Dielen an der Toilette vorbei. Das Klo war leer. Die Klänge wurden lauter. Eine Stimme war zu hören.
    »Gesang! Oper! Da singt jemand.«
    Aus Poschmanns Bude drangen die Klänge eines italienischen Liedes. Es hörte sich feierlich an. Wie in der Kirche. Oder bei einer Trauerfeier.
    »Poschmann singt!«
    »La donna e mobile  …« und dann deutsch: »mögen sie klagen, mögen sie scherzen …«
    Die Tür war angelehnt. Kira schob sie ein winziges Stück zur Seite. Gerade so weit, dass unsere Augen dazwischen passten.
    »La donna e mobile  … oft spielt ein Lächeln um ihre Züge …«
    Was unsere neugierigen Augen jetzt zu sehen bekamen, verschlug uns die Sprache.
    Poschmann, der alte Knacker, der offenbar regelmäßig auf dem Klo einschlief und nicht mehr hochkam, tanzte wie eine Primaballerina im Kreis und trällerte italienische Opern. Diezuvor noch kunstvoll über den Kopf drapierten Haare fielen am linken Ohr bis zur Schulter. Sie sahen aus wie ein verrutschter Skalp.
    »la donna e mobile … oft fliessen Tränen, alles ist Lüge.«
    Poschmann sang, was seine Reibeisenstimme hergab. Natürlich unter Zuhilfenahme von zahlreichen Schlucken billigen Rotweins. Flaschen standen aufgereiht wie Soldaten an der Wand und hielten Wache. In einigen steckten Kerzen, die eine feierliche Stimmung verbreiteten.
    »Der hat doch nicht mehr alle Tassen im …«
    Kira blies zum Rückzug. Mit einer Kerze in der Hand huschten wir auf Zehenspitzen zurück in Jules Zimmer.
    * * *
    Es dämmerte. Die ersten Lichtstrahlen drangen durch die abblätternde Rotschicht auf den Fensterscheiben. Der Morgen blinzelte ins Zimmer.
    Kira war bereits wach. Sie hatte schlecht geschlafen. Fast die ganze Nacht lang musste sie gegrübelt haben. Über eine Frage, die auch mir nicht unbekannt war. Wie sollte es weitergehen? Zwar hatten wir vorläufig ein Dach über dem Kopf, aber weder Geld noch etwas zu essen. Irgendetwas musste passieren.
    Kira stand auf und tastete sich langsam zur Tür, die beim Öffnen höllisch knarrte. Oder kam es mir nur so vor?
    »Na, willst du mit?«, fragte sie mit belegter Stimme.
    Klar.
    Sie griff nach mir, steckte mich in ihre Jackentasche und ging auf Zehenspitzen die knarzenden Stufen hinunter in den Hinterhof. Von dort auf die Straße.
    Wir fuhren mit der S-Bahn kreuz und quer durch die Stadt. Mürrisch dreinblickende Fahrgäste stiegen ständig zu und wieder aus. Manche saßen hinter Zeitungen verborgen. Andere starrten Löcher in die Luft, als wären sie alleine im Waggon. Die Räder quietschten bei jeder Kurve, und wir wurden ziemlich durchgeschüttelt.
    Am Hauptbahnhof stiegen wir aus und liefen die Fußgängerzone entlang, bis plötzlich vor uns die Schaufenster eines riesigen Kaufhauses glitzerten. Wie von einem Magneten angezogen

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