Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
zurückhalten – so lange, bis Herr Poschmann plötzlich aufwachte und »WAS?« brüllte.
Kira erschrak, und mein Herz schlug so heftig, dass ich glaubte, es wollte sich davonmachen.
»Nichts!«, sagte Kira.
»WAS?«, schrie Herr Poschmann unbeeindruckt.
Er sah gar nicht so Furcht einflößend aus, wie er klang. Seine Stimme tönte zwar laut und ein wenig drohend, doch sein Mund verzog sich zu einem freundlichen Grinsen.
Herr Poschmann wollte aufstehen, schaffte es aber nicht. Entweder waren seine Füße noch immer eingeschlafen, oder der ganze Kerl war einfach zu schwach. Kira zögerte keinen Augenblick. Sie steckte mich in den Hosenbund und packte Herrn Poschmann an beiden Armen.
»HAU RUCK!«, brüllte Poschmann.
Kira hievte den Alten in Zeitlupe hoch und – oh Wunder! – Poschmann stand.
Zwar noch etwas wackelig, aber er stand. Seine dünnen Streichholzbeine waren mit roten Punkten wie mit Sommersprossen übersät. Auch über Arme und Gesicht hatte sich der hässliche Ausschlag ausgebreitet.
Bestimmt eine Allergie , dachte ich, während Poschmann sich die Hose hochzog und umständlich sein Hemd hineinstopfte.
»DANKE!«, brüllte er unverändert laut.
»Bitte!«
»WAS?«
»Nichts!«
»SEID IHR VON DRÜBEN?«
»Von wo?«
»WAS?«
»VON WO?«
»VON DRÜBEN! «
Kira wusste zwar immer noch nicht, wo das sein sollte, nickte aber trotzdem.
Der ist schwerhörig! , dachte ich.
»WAS?«
»NICHTS. «
Herr Poschmann schlurfte den Flur entlang, zurück ins Zimmer, wo die Ravioli brutzelten.
»SCHEISSE! «
Wir rannten ihm hinterher.
»ANGEBRANNT! «
Kira hielt sich die Nase zu. Ich musste schmunzeln. Herr Poschmann fluchte und nahm die heiße Dose mit bloßen Händen vom campingkocher.
Der muss ja eine zentimeterdicke Hornhaut an den Fingern haben , dachte ich.
Herr Poschmann schüttete den Inhalt der Büchse in einen Becher und schlürfte etwas von dem verkochten Brei.
»VERDAMMT, IST DAS HEISS! «
Jetzt kniff auch ich die Nase zu.
»JA, SONST GEHT’S. NICHT GUT, ABER BESSER ALS GEDACHT!«
Poschmanns Lachen hörte sich an wie Pferdewiehern, das durch einen Lautsprecher verstärkt wurde.
»Der tickt nicht richtig!« Kira flüsterte es beinahe lautlos und tippte sich dabei unauffällig an die Stirn.
»WAS?«
»NICHTS, GAR NICHTS. «
»WILLST DU MAL?« Herr Poschmann streckte Kira den Becher entgegen.
»NEIN, DANKE. ICH MUSS JETZT LOS.«
»SCHADE. NA, DANN BIS SPÄTER. TSCHÜSS!«
»TSCHÜSS«, sagte Kira. Tschüss , dachte ich.
* * *
Auf der anderen Flurseite, gegenüber von Herrn Poschmanns Wohnung, war »Drüben«. Der einzige Ort, der sonst noch bewohnt schien. Ich erkannte sofort, dass das einzige möblierte Zimmer in der ansonsten leeren Wohnung nur Jule gehören konnte.
Die Hälfte des Zimmers war mit Matratzen ausgelegt. Darauf lagen zwei Schlafsäcke und ein paar bunte Wolldecken. In der anderen Hälfte stand ein Korbsessel mit kaputter Sitzfläche. Zwei aufeinandergestellte Obstkisten dienten offenbar als Tisch. Darauf lagen ein paar Bücher, leere Zigarettenschachteln, Feuerzeuge.
Überall im Zimmer standen Kerzen – dicke, dünne, große, kleine –, dazu Grablichter und weiße Teelichter in Aluschälchen. Ein beigefarbener Postsack war prall gefüllt mit Klamotten. Daneben lagen Turnschuhe und schwarze Lederstiefel mit roten Schnürsenkeln.
Dazwischen verteilt Bananenschalen und Schokoladenpapier. In der Mitte des Zimmers stand ein riesiger tragbarer Kassettenrekorder. Um ihn herum lagen Kassettenhüllen und lose Kassetten.
Kira drückte auf »Start«. Eine Gitarre gab den metallischen Rhythmus vor. Bässe tönten hinterher. Ein Schlagzeug suchte Anschluss. Ein elektronischer Bass funkte melodisch dazwischen. Dann fing plötzlich eine Stimme an zu singen, die Kira und mir eine Gänsehaut auf den Rücken zauberte.
»… Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran! Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran! Spacelabs fallen auf Inseln, Vergessen macht sich breit, es geht voran!Spacelabs fallen auf Inseln, Vergessen macht sich breit, es geht voran …!«
Das Auffälligste in diesem Zimmer waren die Wände. Natürlich gab es auch hier keine Tapeten, und der Putz fiel in handflächengroßen Brocken auf den Fußboden. Alles war voll mit Zeichnungen und Sprechblasen. Comicstrips zogen sich in Schlangenlinien über mehrere Wände bis zur Decke und verwandelten das Zimmer in ein Comic-Land. Eine neue Welt tat sich auf. Eine Welt aus
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