Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
wehten, verging nicht mal ein Tag, da schickte die SAGA schon eine Abordnung aus Rechtsanwälten, die den jungen Leuten unter Pfiffen und »Haut ab!«-Rufen ein Ultimatum stellte: Entweder, das Haus war innerhalb einer Woche leer, oder die SAGA ließ es von der Polizei räumen. Wer es nicht glauben wollte, konnte es auf einem Zettel, den die Anwälte an die Haustür pinnten, schwarz auf weiß nachlesen.
Von da an waren alle Hausbesetzer in heller Aufregung. Auch die anderen jungen Leute, die sich die Häuser in der unmittelbaren Nachbarschaft schon vor Jahren unter den Nagel gerissen hatten, fürchteten jetzt, hinausgeworfen zu werden. Insgesamt ging es um zwölf Häuser in der Hafenstraße und der benachbarten Bernhard-Nocht-Straße.
»Das ist mal wieder typisch«, sagte Jule. »Wenn sich die Immobilienspekulanten nicht mehr zu helfen wissen, rufen sie nach der Polizei!«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Kira.
»Kämpfen!« Jule sah dabei ganz ernst aus.
»Aber wie kämpft man gegen so einen …«
»Wir verbarrikadieren uns. Wir lassen einfach niemanden rein.«
»Du meinst, ins Haus?«
»Ja. Und auch in die ganze Straße nicht.«
»Was? Wir sollen die ganze …«
Kira hatte Schwierigkeiten, Jules Gedanken und Worten zu folgen.
Auch für mich war auf Anhieb nicht leicht zu kapieren, was Jule und die anderen vorhatten.
»Wir riegeln am besten die ganze Straße ab!« Jule rieb sich die Hände.
»Dann können wir selbst aber auch nicht mehr raus.«
»Na und? Wenn wir das gut planen, halten wir es ziemlich lange durch.«
»Ohne Wasser, ohne Strom, ohne alles?«, gab Kira zu bedenken.
»Einen Versuch ist es wert. Aufgeben kann man immer noch.«
Da hatte sie auch wieder recht.
»Aufgeben?«, ging einer der Jungs mit den Parolen auf dem Rücken dazwischen. »Wer spricht hier von aufgeben?«
»Jetzt geht es erst richtig los!«, fügte ein anderer hinzu.
»Genau.«
»Das geht doch schon seit Jahren so«, versuchte der mit dem Irokesenschnitt zu erklären. »Wir lassen uns hier nicht einfach so vertreiben. Wir haben ein Anrecht auf bezahlbare Wohnungen, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.«
»Ja! Jetzt erst recht.«
* * *
Im Hof wurde eine Versammlung einberufen, die »Plenum« genannt wurde. Alle kamen zusammen. Es wurde über das Ultimatum und die weitere Vorgehensweise diskutiert. Dabei ging es ziemlich drunter und drüber. Jeder durfte etwas sagen, und alle kamen zu Wort. Oft redeten alle durcheinander.
Mich erinnerte das alles irgendwie an Christiania.
»Wir müssen unsere Forderungen publik machen«, schlug jemand vor.
Ein anderer nahm den Gedanken auf. »Genau, wir brauchen unterstützung von außen!«
Die Vorschläge überschlugen sich. Auch die Stimmen, die sie vortrugen.
»Vielleicht sollten wir eine Demonstration organisieren.«
»Außerdem müssen wir die Öffentlichkeit ständig über das informieren, was hier abgeht.«
»Aber wie?«, fragte jemand in die Runde. Man sah, wie sich nun alle anderen den Kopf darüber zerbrachen. Bis Jule plötzlich rief: »Wie wär’s mit einem Radiosender?«
»Den kriegen wir doch nie genehmigt«, widersprach eine junge Frau.
»Wer spricht denn hier von Genehmigung, Mann«, eilte einer der Irokesen Jule zu Hilfe. »Wir machen das einfach so. Technisch ist das kein Problem.«
»Ja, ein Piratensender!«
»Radio Hafenstraße!«
»Wer ist mit dabei?«
Die meisten Hände gingen nach oben. Auch die von Kira und Jule.
»Angenommen!«
»UND WAS MACHEN WIR MIT DEM ULTIMATUM?«, fragte Poschmann.
»Ablehnen!«, brüllte jemand ähnlich laut zurück.
»Zurückweisen!«, fügte eine andere Stimme hinzu.
Applaus brandete auf. Nur Poschmann wirkte nachdenklich.
»Ich weiß nicht, Freunde«, sagte er und bemühte sich, leiser zu sprechen. Ganz so, als ob ihm die eigene Lautstärke unangenehm wäre. »Ich hab so ein blödes Gefühl, dass das nicht gut geht.«
»Und was schlägst du vor?«
»Hm«, machte Poschmann. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass er nüchtern war. »Ich weiß nicht, aber vielleicht sollte man versuchen, mit ihnen zu verhandeln.«
»Verhandeln?«, fragte ein junger Mann aus der Irokesenschnitt-Fraktion. »Hab ich das richtig gehört?«
»Vielleicht könnte man tauschen«, sagte Poschmann.
»Tauschen?«
Alle anderen schienen nicht genau zu wissen, woraufPoschmann hinauswollte. Sie sahen ihn erstaunt und erwartungsvoll an.
»Na ja, vielleicht geben sie uns für dieses Haus ein anderes. Wenn wir hier
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