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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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urin.«
    »Aber …«
    »Jahrelange Erfahrung!« Wieder lächelte sie. »Keine Sorge, du kannst hier bleiben!«
    »Hier?«
    »Logisch! Oder willst du ins Hotel Atlantic? Such dir einfach ein Stockwerk aus!«
    Verdattert bedankte sich Kira.
    »Aber ich dachte, die Mieter wurden rausge…«
    »Na und? Ziehen wir eben wieder ein.«
    »Wir?«
    »Klar! Oder glaubst du, ich wohne auch im Hotel Atlantic?« Sie lachte. »Bis später. Ich hab noch was Dringendes zu erledigen. Ich komme zurück, so schnell ich kann. Tschüss!«
    »Tschüss!«, erwiderte Kira.
    Tschüss , dachte ich.
    Wieder legte Jule einen Blitzstart hin. Ihre Schnürsenkel tanzten, ihr T-Shirt flatterte. Nach wenigen Sekunden war sie verschwunden.
    * * *
    Hamburg. Sankt Pauli. Abgewrackter Hinterhof. Zweiter Stock. Das Haus sah innen nicht besser aus, als man von außen vermuten konnte. Der Putz bröckelte von den Wänden. Die weißen Fliesen im Hausflur waren abgefallen, die meisten zerbrochen. Die Holztreppen sahen so morsch aus, dass jeder Tritt der Letzte sein konnte. Zu allem Überfluss gab es auch kein Geländer mehr.
    Vorsichtig tastete Kira sich die Stufen hoch. Oben streiften wir durch die verwaisten Zimmer. Die Wohnungstüren waren ausgehängt oder standen offen, und in den Zimmern herrschte gähnende Leere. In manchen fehlten einzelne Bohlen, oder der PVC-Boden war herausgerissen. In anderen befand sich noch unbeschädigtes Parkett. Tapeten hingen in breiten Fetzen von den Wänden.
    Das Licht war schummrig, obwohl draußen die Sonne schien. Hie und da hingen noch Lampen an den Decken. Doch wenn Kira den Schalter drückte, blieben sie dunkel.Offenbar gab es keinen Strom. Manchmal verirrten sich ein paar Sonnenstrahlen in einen der Räume und warfen helle Linien an die Wände, die aussahen wie mit dem Lineal gezogen. An den Wohnungstüren hingen Namensschilder aus Metall: Hirsch. Radenkovic. Izmir. Mladic. Soleman. Neureuther. Bei Poschmann war die Tür nur angelehnt. Kira wurde es unheimlich.
    »Hallo, ist da wer?« Sie schob die Tür etwas weiter auf. »Ist da jemand?«
    Keine Antwort.
    Wir standen jetzt im Flur der fremden, düsteren Wohnung. Er roch nach angebranntem Essen und Zigarettenrauch. Und da war noch ein anderer Geruch. Es roch säuerlich, abgestanden und ekelhaft. Kira tastete sich weiter den Flur entlang, von einem Zimmer zum nächsten.
    »Hallo, ist da jemand?«
    Die Zimmer waren leer. Durch die bemalten Scheiben fiel rötliches Licht. Im letzten Raum lag ein Schlafsack auf dem Boden, der über eine Isomatte gebreitet war. Daneben waren Kerzen auf dem Boden festgeklebt. Entlang der Wand standen Wein-, Bier- und Schnapsflaschen. In der Ecke befand sich ein marinefarbener Rucksack. Rundherum waren Plastiktüten verteilt, vollgestopft mit Krimskrams. In der Mitte des Zimmers lag ein umgedrehter Einkaufswagen. Auf einem Campingkocher brutzelte eine Dose Ravioli. Die kleine blaue Flamme zischte und flackerte. Niemand war zu sehen.
    Verdammt, hier wohnt doch einer! , dachte ich. Vielleicht Jule?
    Kira rief noch einmal: »Hallo, ist da wer?«
    Wieder keine Antwort.
    »Nichts wie weg hier!«
    Ich nickte erleichtert. Wir schlichen hinaus auf den Flur und an der Toilette vorbei.
    Kira blieb plötzlich stehen und wurde bleich wie die abgefallenen Fliesen im Treppenhaus. Sie starrte an der angelehnten Tür vorbei in die Toilette.
    »D… da! Sch… schau!«, stotterte sie. Ich sah ebenfalls durch den Spalt eine Gestalt, die zusammengesunken auf dem Klo saß.
    »Hallo?«
    Kira schob die Tür langsam auf. Es knarrte. Jetzt sahen wir die Person deutlich vor uns. Es war ein alter Mann, der wie an die Klobrille festgebunden schien. Die Hose war bis zu den Knien heruntergeschoben. Die Arme hatte er auf den Oberschenkeln aufgestützt. Das Hemd war bis zur Brust aufgeknöpft. Ein verfilztes, graues Haarbüschel lugte über dem Ausschnitt hervor. Er trug einen silbernen Vollbart. Die spärlichen Silbersträhnen auf seinem Kopf hatte er kunstvoll vom linken zum rechten Ohr drapiert und vermutlich mit Spucke festgeklebt. Seine Augen waren geschlossen.
    »Ist er tot?«, flüsterte Kira.
    Ich hatte keine Ahnung.
    Wir horchten. Zuerst war nichts zu hören. Dann ein leises Pfeifen, das verstummte und kurz darauf in regelmäßigen Abständen wiederkehrte. Pssst. Stille. Pssst. Nichts. Pssst  …
    »Also doch nicht tot!«, sagte Kira. »Der ratzt bloß! Herr Poschmann ist eingeschlafen! Beim Kacken!«
    Kira lachte. Auch ich konnte mich nicht mehr

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