Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
ausziehen, dann nur, wenn wir in ein anderes Haus einziehen können. Eine Art Tausch, versteht ihr?«
Einige schienen tatsächlich über Poschmanns Vorschlag nachzudenken. Andere wiederum lachten verächtlich. Einer sagte: »Mann, das ist doch total naiv. Die tauschen nicht, die verhandeln nicht, die drohen!«
Um sein Argument zu verdeutlichen, wedelte er mit dem Zettel der SAGA in der Luft herum.
»Und wenn wir uns denen nicht fügen, schlagen sie zu«, meinte ein anderer. »So ist das!«
»Da kommt man mit Verhandlungen nicht weit.«
»Vielleicht habt ihr ja recht.« Poschmann gab kleinlaut bei. »War ja auch nur so ’ne Idee!«
»Wer ist für Verhandeln?«
Nur ein paar Hände gingen nach oben.
»Abgelehnt!«
Wieder brandete Jubel auf.
»Ich schlage vor, dass wir hier jeden Abend und jede Nacht ein Fest mit Live-Musik und vielen Gästen veranstalten. Dann werden sie es nicht wagen, das Haus zu räumen, was meint ihr?«
Erneuter Applaus.
»Wer ist dafür?«
Alle Hände waren oben.
»Angenommen!«
* * *
In den nächsten Tagen wurden emsig Vorkehrungen für den Ernstfall getroffen. Lebensmittel in großen Mengen wurden besorgt. Wasser in alte Fässer gefüllt. Ganze Paletten Bierdosen stapelten sich im Hausflur. Die Fenster in den unteren Geschossen, die noch nicht verbarrikadiert waren, wurden jetzt ebenfalls mit Brettern zugenagelt. In der Hafenstraße wurden Straßensperren aus alten Möbeln, Kühlschränken, Waschmaschinen und Autoreifen errichtet, sodass ein Durchkommen unmöglich war. Auch Stacheldraht wurde benutzt, sowohl auf den Dächern der Häuser, als auch als Straßenbarrieren. Nach ein paar Tagen sahen die Häuser und die Straße wie eine Festung aus. Es gab kein Durchkommen mehr.
Viele Anwohner und andere Leute in der Stadt, die gar nicht in den besetzten Häusern wohnten, halfen ebenfalls. Sie schlugen sich auf die Seite der Hausbesetzer. So viel Zuspruch hatten nicht einmal die Besetzer selber erwartet.
* * *
Am Freitag lief das Ultimatum ab. Die Wohnungen waren mit Lebensmitteln und Getränken prall gefüllt, sodass mehrere Wochen durchgehalten werden konnte, ohne auch nur einen Fuß außerhalb des Grundstücks zu setzen. Alle waren darauf eingestellt, das Haus auf Biegen und Brechen zu verteidigen, doch zunächst passierte nichts.
Alle warteten in nervöser unruhe. Aber weder die Polizei, noch die SAGA oder eine von ihr beauftragte Delegation tauchten auf. Auch nicht am zweiten Tag nach Ablauf des Ultimatums. Das Fernbleiben der Gegner wurde als kleiner Teilerfolg und Etappensieg gefeiert.
»Die haben wohl gedacht, wir ziehen den Schwanz ein«,sagte Jule. Ein Junge, kaum älter als sie, fügte hinzu: »Ja, die glauben, wir nehmen das alles so hin. Sagen zu allem Ja und Amen! Aber da haben sie sich getäuscht!«
Kira hing auffällig verträumt an seinen Lippen und nickte immer wieder in die auch tagsüber von Kerzenlicht erhellte Wohnung, die dadurch schummrig und geheimnisvoll wirkte.
Ich spielte in ihrem Leben momentan überhaupt keine Rolle mehr. Achtlos stand ich mal in dieser Ecke, mal in einer anderen, und wurde hin und her geschoben.
Seltsamerweise wünschte ich mir insgeheim, dass etwas passierte. Vielleicht sogar, dass das Haus geräumt wurde und mein Leben sich dabei weiterentwickeln konnte. Zumindest weiter, als hier in einer schummrigen Wohnung zu versauern, ohne gebraucht zu werden.
* * *
So ging es die nächsten Wochen und Monate. Immer wieder wurde mit der Polizei gedroht, die Häuser räumen zu lassen. Dann kam ein wenig Bewegung in die verfahrene Situation. Es gab tatsächlich Verhandlungen. Die Häuser sollten nicht abgerissen werden, wenn von den Hausbesetzern gewisse Auflagen erfüllt würden. Auflagen, die jedoch unmöglich eingelöst werden konnten, so sahen es die jungen Leute. Viele vermuteten dahinter auch nur einen Trick. Wenn die Barrikaden beseitigt sind, glaubten manche, wird die Polizei die Häuser erst recht stürmen, so wie sie es in der Vergangenheit schon öfters gemacht hatte.
Aus ganz Hamburg gab es Zuspruch und unterstützung für die Hausbesetzer. Menschen kamen vorbei, brachten Lebensmittel und zeigten auf diese Weise, dass sie auf der Seiteder Besetzer standen. Auch aus dem gesamten Bundesgebiet reisten Menschen an, um die jungen Leute bei ihrem Kampf um ihre Häuser zu unterstützen.
* * *
Ich traute meinen Ohren nicht. Das war ein Dialekt, der mir bekannt vorkam. Schwäbisch! Das waren auch Stimmen, die ich schon einmal gehört
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