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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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in den Taubenschlag zu den anderen Tauben hüpfen ließ, löste er das eingerollte Zettelchen von ihrem Bein. Die Botschaft von Ruth. Er rollte das Zettelchen auf und las mit bewegter Stimme, den Tränen nahe:
    »Mein Liebster, mein Einziger. Danke für deine Worte.« Er las so leise, dass es kaum zu verstehen war. »Ich glaube wir werden es bald überstanden haben. Wenn es so weitergeht mit den Montagsdemonstrationen, kann euer Regime sich nicht mehr lange halten. Dann sind die Tage der Bonzen gezählt, und wir beide werden uns endlich wiedersehen. Halt durch, mein Liebster. Bis dahin, deine dich über alles liebende Ruth.«
    Noch lange saß der Taubenzüchter vor dem Schlag, rauchte eine Zigarette nach der anderen und las die Botschaft von Ruth immer wieder, meist lautlos, bis er sie schließlich mit der Flamme seines Feuerzeugs verbrannte.
    * * *
    Frau Krumbiegel, die Frau mit dem Wäschekorb, kam am nächsten Tag wieder auf das Dach. Es war ideales Waschwetter, weil die Sonne schon früh am Morgen schien. Frau Krumbiegel stellte den vollen Korb mit der feuchten Wäsche auf die Erde, verschwand hinter dem Kamin und holte eine dort versteckte Flasche hervor. Sie schraubte die Flasche auf und trank hastig in kleinen Schlucken. Anschließend steckte sie sich eine Zigarette an und schaute in den Taubenschlag, wobei sie zu den Tauben sprach. Doch ihre Stimme war so leise und nuschelnd, dass ich es, noch immer auf der Erde in der Nähe des Lakens liegend, leider nicht verstehen konnte. Frau Krumbiegel trank wieder aus der Flasche, in der sich eine durchsichtige Flüssigkeit befand. Dann weinte sie fast lautlos vor sich hin. Dabei schluchzte sie immer: »Der kapiert es nicht! Der kapiert es einfach nicht! Und ich dumme Kuh traue mich nicht!«
    Was hat die denn für Probleme? , fragte ich mich, während Frau Krumbiegel laut in ihr Taschentuch schnäuzte. Dann ging sie wieder zu einem der Kamine, ließ die Flasche dahinter verschwinden und schnipste die Zigarettenkippe auf die Straße hinunter, ehe sie die trockene Wäsche von der Leine nahm und die feuchte aufhängte.
    Die ganze Zeit, die ich nun schon auf diesem Dach lag, im Schutz des Taubenschlages, hatte mich außer Olli niemand bemerkt. Das sollte sich nun ändern.
    Als Frau Krumbiegel das weiße Bettlaken von der Leine nahm, sah sie mich auf der Erde liegen. Sie tippte mich mit ihrer Fußspitze an, als wollte sie überprüfen, ob ich noch lebte. Ich, ein Nussknacker aus Holz!
    Frau Krumbiegel hob mich auf, hielt mich ganz dicht vor ihre Augen und starrte mir ins Gesicht. Minutenlang, so kam es mir vor. Frau Krumbiegel schielte erbärmlich, sodass mir beim Blick in ihre Pupillen ganz schwindlig wurde. Ohne ein Wort zu sagen, stellte sie mich neben den Taubenschlag. Sie nahm ihren vollen Wäschekorb mit der trockenen Wäsche und verschwand.
    Jetzt stand ich so auffällig da, dass jeder mich sehen konnte, der mich sehen wollte.
    Am Abend kam Oberfeldwebel Klausner und sah mich ebenfalls. Er nahm mich mit in seinen Verschlag und stellte mich neben sein Abhörgerät, mit dem er den Mann in der Wohnung gegenüber bespitzelte.
    * * *
    Da stand ich dann noch fast zwei Monate und konnte nach wie vor ganz unterschiedliches beobachten. Ich gebe zu, es war nicht unspannend. So sah ich zum Beispiel ein Liebespaar, das sich heimlich auf dem Dach traf und zwischen den aufgehängten Wäschestücken der Frau Krumbiegel Liebe machte.
    Ich sah Jugendliche, die in der Nacht auf das Dach kamen. Sie tranken Bier und machten Klimmzüge an der Teppichklopfstange, während aus einem mitgebrachten Kassettengerät Musik erklang.
    »Paradiesvögel fängt man nicht ein./ Paradiesvögel fliegen dir zu von ganz allein./ Paradiesvögel sperrt man nicht ein./ Sie brauchenden Himmel ganz, ein Stück ist zu klein …« Sie sangen mit und tanzten dazu. »Er hat meine Freunde gesehn/ und grinste mich an./ Da wusst ich, wenn die Winde sich drehn,/ ich alle vergessen kann./ Ich habe ihn durch mein Traumreich geführt, /er ging umher fremd und kühl./ Und er hat keine Hand gerührt,/ als es in Scherben fiel …«
    Auch ein Schauspielstudent kam öfter auf das Dach und übte verschiedene Rollen. Dabei sprach er die Tauben an, als wären es Figuren aus irgendwelchen Theaterstücken. Zum Beispiel rief er: »Geben Sie Gedankenfreiheit.« Oder: »Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.«
    Das konnte ich auch von mir sagen.
    * * *
    Kurze Zeit später schien die Bespitzelung ein Ende zu

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