Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Weinflasche, manchmal Tabak und ab und zu was zum Fressen für den Hund. Er setzte sich in der Nähe des Schlesischen Tors, immer auf denselben Fleck, trank, rauchte und bettelte. Bis es dunkel wurde. Dann legte er sich auf eine Parkbank in den Görlitzer Park und schlief, bis die Sonne ihn weckte.
Jeden Tag dasselbe mit null Aussicht auf Veränderung. Bis zu dem Tag im Herbst, als es schon ziemlich kühl wurde und jemand im Vorbeigehen in der Nähe des Schlesischen Tors ganz aufgeregt sagte: »Die Mauer geht auf!«
»Wat?«
»Die Mauer, du Penner! An der Bornholmer Straße kommen die Ossis rüber.«
Der Obdachlose tippte sich an die Stirn.
»Der hat se doch nich alle!«
Er war aber nicht der Einzige. Immer wieder blieben Leute in der Nähe des Obdachlosen stehen und unterhielten sich aufgeregt über die Mauer.
»Der Schabowski hat Reisefreiheit angekündigt.«
»Wann?«
»Jetzt. Ab sofort dürfen die DDR-Bürger direkt über alle Grenzübergänge zwischen der BRD und der DDR ausreisen.«
»Das glaub ich nicht.«
»Ich schwör’s. Ich hab’s in den Abendnachrichten gesehen.«
»Die spinnen doch alle!« Der Obdachlose schüttelte den Kopf. Er nahm einen Schluck aus der Pulle, strich seinemHund, der noch immer wie tot neben mir lag, über das Fell und lachte. Doch das Lachen verging ihm, als immer mehr Menschen aufgeregt von der geöffneten Mauer redeten, als wären sie von einem Virus infiziert. Sie riefen sich zu: »Auf zur Bornholmer Straße, Ossis empfangen!«
Am Ende schien auch der Obdachlose die unerschütterlich scheinende Mauer wackeln zu sehen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich von der Erde zu erheben, mich, die Blechbüchse und seinen alten Hund, den er zuerst noch wecken musste, an die Hand zu nehmen und sich Richtung Grenzübergang in der Bornholmer Straße aufzumachen.
Mit ihm wurden es immer mehr. Es sprach sich wie ein Lauffeuer in der Stadt herum, dass die DDR-Führung die Grenze nach Westberlin öffnen würde. In Ost- wie auch in Westberlin.
Als wir gegen halb elf am Abend an der Mauer und dem Grenzübergang in der Bornholmer Straße ankamen, trauten wir unseren Augen kaum. Die ersten Ostbürger wurden vereinzelt über die Grenze gelassen. Eine riesige Menge verlangte dasselbe. Sie drängten sich vor dem Schlagbaum der völlig überforderten Grenzbeamten, die offenbar nicht wussten, was sie tun sollten. Zurückschicken konnten sie die DDR-Bürger offenbar nicht. Dafür waren es einfach zu viele. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Schlagbaum zu öffnen. Die Grenze war auf, die Mauer gefallen.
Der Obdachlose schaute sich das alles an, als wäre es eine Fata Morgana. Eine Sinnestäuschung. Als hätte er zu oft an seiner Weinpulle genippt.
Er setzte sich nicht weit vom Grenzübergang auf den Boden, nahm einen großen Schluck aus seiner Weinflasche und schüttelte den Kopf.
»Dat ick det noch erleben darf!«
Seinen Hund ließ das alles ziemlich kalt. Kaum hatte er sich niedergelegt, war er schon wieder eingeschlafen. Der Obdachlose stellte mich und die Blechdose wieder vor sich auf den Boden und schaute den an ihm vorüberziehenden Leuten fasziniert zu, wie sie sich freuten und ab und zu einen Groschen in die Blechdose warfen, dass es schepperte.
»Hau ab, du Penner!«, schimpfte plötzlich ein Mann. »Was sollen unsere Brüder und Schwestern von drüben denken, wenn sie rüberkommen und dich als Erstes sehen?« Er schüttelte zornig den Kopf und zog weiter.
Was sollen die schon denken , dachte ich. Vielleicht, dass hier auch nicht alles Gold ist, was glänzt.
Der Obdachlose ließ sich nicht vertreiben. Schließlich hatte er die Chance, dank der großen Menschenmenge am Grenzübergang ein paar Groschen mehr zu verdienen. Vielleicht wollte er aber auch nur hautnah bei diesem einmaligen Erlebnis dabei sein. Er blickte zum Grenzübergang, wo immer mehr Menschen aus dem Osten in den Westen strömten.
»Det is doch irre!«, nuschelte er vor sich hin und nahm erneut einen Schluck aus der Weinpulle. Dann strich er seinem alten Schäferhund, der schnarchend neben ihm lag und den Mauerfall geradewegs verschlief, über das Fell. »Nach achtundzwanzig Jahren fällt die olle Mauer. Wer hätte det jedacht?«
Ich nicht. Er nicht. Ich glaube, niemand.
Ein Mann blieb plötzlich direkt vor dem Obdachlosen stehen. Ich sah, wie er aber nicht den Mann oder den Hund betrachtete, sondern mich, als erinnerte ich ihn an irgendetwas, ja, als erkenne er mich sogar. Der Mann war um die
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