Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
haben. Zumindest packte der Oberfeldwebel Klausner seinen Kopfhörer und die Abhörgeräte ein.
Auch mich steckte er in seine schweinslederne Mappe. Er verließ den Verschlag und das Dach.
Und mit ihm auch ich.
Eigentlich war ich sehr froh darüber.
1989 – 1990, Ost- und Westberlin, DDR und BRD
Am nächsten Morgen, es war Anfang September und schon ziemlich kalt, fuhr Herr Klausner im grauen Anzug und Krawatte mit dem Zug von Leipzig nach Ostberlin. Dort passierte er an der Bornholmer Straße ohne Probleme die Grenze nach Westberlin.
Komisch, warum darf der in den Westen fahren? , fragte ich mich. Nach Westberlin? Die meisten DDR-Bürger durften es nicht. Da hatten die Mauer und die offizielle Politik der DDR etwas dagegen.
Beides verwehrte ihnen die Ausreise. Als IM, als Stasi-Spitzel, hatte Herr Klausner offenbar Sonderrechte. Vielleicht war er aber auch beruflich unterwegs. Im Auftrag der Firma sozusagen.
Wobei meine Reise mit ihm kurze Zeit später auch schon zu Ende war. Er saß jetzt in der Westberliner U-Bahn, starrte aus dem Fenster und schien nicht zu bemerken, wie seineschweinslederne Mappe, die an seinen Beinen stand, unter dem Sitz weggezogen wurde.
Am Schlesischen Tor stieg die Mappe aus. Oder besser, die Mappe wurde von zwei Jugendlichen aus der U-Bahn geschleppt, wobei einer sie unter den Arm geklemmt hatte. Als Klausner es schließlich doch noch bemerkte und entsetzt aufsprang, war es zu spät. Die Türen schlossen sich. Die zwei Jugendlichen winkten ihm und der abfahrenden Bahn frech hinterher.
Kaum hatten die Jungs die Haltestelle verlassen, durchwühlten sie die Mappe. Sie fanden nichts, was ihre gute Laune begründet hätte. Der eine fluchte. Der andere sagte: »Scheiße, lauter Schrott.«
Auch ich konnte sie nicht zufriedenstellen. Ohne mich näher zu beachten, steckten sie mich und alles andere, was sie in der Mappe fanden, in einen der öffentlichen Mülleimer. Sie behielten nur die schweinslederne Mappe und hauten ab.
Da lag ich nun inmitten von Müll. Es stank, und es war dunkel und heiß.
Soll meine Reise hier enden? , dachte ich. Nach all der langen Zeit unterwegs, in verschiedenen Situationen und Ländern? Nach aufregenden Ereignissen, aber auch beschwerlichen Erfahrungen soll hier, inmitten von Müll, mein Ende gekommen sein?
Ich schloss die Augen und wünschte mich weit weg. Das half bisher manchmal. Diesmal nicht. Der Wunsch ging nicht in Erfüllung. Ich war und blieb hier in diesem Mülleimer gefangen und ergab mich in mein Schicksal.
* * *
Als ich mit meinem Leben gedanklich schon abgeschlossen hatte und nicht mehr daran glaubte, dass meine Situation sichverbessern würde, griff plötzlich eine Hand nach mir und fischte mich aus dem Mülleimer.
Ich blickte in ein verwildertes Gesicht mit langem strubbeligem Bart, roter Knollennase und schlechtem Atem. Eine Schnapsfahne blies mir ins Gesicht. Der Mann lachte.
»Ja, is denn heut schon Weihnachten?«, sagte er und kam sich dabei offenbar besonders lustig vor. »Ick werd verrückt, kiek mal, Charly, ’n Nikolaus!«
Ist der bescheuert , dachte ich. Ich bin ein Nussknacker und kein blöder Nikolaus. Und für Weihnachten war es viel zu warm. Die Sonne knallte vom Himmel. Die Leute um uns herum trugen kurze Hosen, Sandalen und T-Shirts. Und wer um Himmels willen war Charly?
Eine schlabberige Zunge schleckte mir über den Wanst, und ich schaute in die wässrigen Augen eines Schäferhundes.
»Is jut jetzt!«
Fand ich auch. Der Hund hatte einen ähnlichen Mundgeruch wie der Alte. Der Mann steckte mich in eine Plastiktüte und stapfte los.
Nicht weit vom Schlesischen Tor entfernt setzte er sich auf das Trottoir, schob eine zerbeulte Blechbüchse vor sich hin und stellte mich daneben. Auch der Hund ließ sich nieder, wobei er seine Schnauze genau neben mich legte. Kurze Zeit später schlief er ein. Ich konnte den Hund im Schlaf knurren hören, als hätte er schlechte Träume. Der Mann trank billigen Rotwein aus einer großen Flasche, rauchte ununterbrochen selbst gedrehte Zigaretten und rief vorbeikommenden Passanten immer wieder »Haste mal ’ne Mark?« zu.
Hatten die meisten nicht. Nur ganz selten schepperte eine Münze in der Büchse, dass ich jedes Mal erschrak.
So ging das tagelang, wochenlang. Der Alltag des Obdachlosen war ziemlich eintönig. Ein paar Stunden am Tag durchwühlte er die Mülleimer im Berliner Stadtteil Kreuzberg und brachte die erbeuteten Pfandflaschen zum Supermarkt. Dann kaufte er sich eine
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