Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Vergangenheit.
Die Frau beugte sich zu mir hinunter und hockte sich neben Max, der sie nun ebenfalls bemerkte, sie aber nicht erkannte. Auch die Frau schien ihn nicht zu erkennen.
Aber ich erkannte beide.
Das war Irén!
In diesem Moment schien auch bei ihr der Groschen gefallen zu sein. Sie erkannte mich.
»Das ist doch mein …« Sie stockte und blickte auf Max. »Bist du … bist du Max?«
Max’ Gesicht war wie eine riesige Wüste, in der in einem versteckten kleinen Winkel, in einem winzigen Sandhaufen, plötzlich ein Vergissmeinnicht erblühte.
»Irén?«
Die Frau nickte, während Tränen über ihre Wange liefen. Max weinte ebenfalls. Dann fielen sie sich in die Arme.
Da ist ja wie im Film , dachte ich. Wie in einem Hollywoodschmachtfetzen.
Sentimental und gefühlsduselig. Und wunderschön. Es war so rührend, dass sich ein feuchter Schleier auf meine Augen legte.
Dem Obdachlosen schien das Ganze nicht geheuer zu sein, denn als die beiden sich nach fast fünf Minuten immer noch in den Armen hielten, als wollten sie sich nie wieder loslassen, sagte er im Berliner Dialekt: »He, wat is nu? Wollt ihr beeden vielleicht ewig hier sitzen bleeben? Dat is nich jerade jeschäftsfördernd! Ick muss Jeld verdienen!«
Irén und Max tauchten kurzzeitig aus ihrem Gefühlstaumel auf. Sie lachten und sahen mit verheulten Augen so glücklich aus wie nie zuvor.
Max sagte: »Entschuldigen Sie bitte, aber das ist …«
»Ein Wunder!«, ergänzte Irén. Beide umarmten sich wieder.
Der Obdachlose tippte sich an die Stirn. »Klar. Und ick bin Jesus.«
Max nickte. Irén ebenfalls. Dem Obdachlosen wurde immer unheimlicher zumute.
»Meister, wenn de mir ’ne kleene Spende jeben würdest, wär dat och für mich ’n Wunder.«
»Was wollen Sie für den Nussknacker haben?«
Der Obdachlose sah Max an, als wäre er nicht sicher, ob der es ernst meinte oder ihn nur veräppeln wollte.
»Der is nich zu verkoofen.«
Ich wusste sofort, dass der Mann pokerte. Nach dem Motto: Etwas unverkäufliches bringt nun mal einen höheren Preis.
Altes Schlitzohr! , dachte ich noch, als Max sein Portemonnaie aus der Tasche holte und alles, was darin war, in die Blechdose kippte. Es war ziemlich viel. Ich sah mehrere große Geldscheine, viele kleine und eine Handvoll Münzen. Und so wechselte das unverkäufliche den Besitzer. Irén griff nach mir. Sie und Max standen auf.
Jetzt dachte offenbar auch der Obdachlose an ein Wunder. Sein persönliches Wunder.
Er fing an zu singen und lachte dazwischen immer wieder, als würde er gleich verrückt werden. Wieder sang er in breitem Berlinerisch einen alten Schlager: »Wunder jibt et immer wieder/ heute oder morgen/ können se jeschehn./ Wunder jibt et immer wieder/ wenn se dir begegnen/ musste se auch sehn./ Viele Menschen suchen/ jeden Tag uff ’s neu/ jemand der sein Herz/ ihnen jibt./ Und wenn se schon glauben/ er kommt nie vorbei/ finden se den einen/ der se liebt.«
* * *
Wir gingen. Der Obdachlose winkte uns noch lange hinterher, singend und lachend.
Nicht weit vom Grenzübergang an der Bornholmer Straße im Stadtteil Wedding entfernt setzten Max und Irén sich in eine Gaststätte und erzählten sich bei Kerzenschein aus ihrem Leben. Alles, was die letzten dreißig Jahre bei ihnen passiert war, und das war allerhand. Ich stand auf dem Tisch und hörte zu.
Max war, wie sein Vater, Arzt geworden. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Nachdem die Ehe zu Bruch gegangen war und die Kinder aus dem Gröbsten heraus gewesen waren, stellte er einen Ausreiseantrag. Seit fünf Jahren lebte er nun in Westberlin. Seit drei Jahren war er Arzt in einem Krankenhaus. Irén hingegen lebte, seit sie zwanzig war, in Ostberlin. Die Liebe hatte sie vom Westen in den Osten ziehen lassen. Die Liebe war zwar nach ein paar Jahren zu Ende, aber die DDR blieb von da an ihre Heimat. Sie besuchte eine Schauspielschule und trat nach ihrem Studium an verschiedenen ostdeutschen Theatern auf, in Magdeburg, Rostock, Karl-Marx-Stadt und zuletzt wieder in Ostberlin. Sie hatte eine erwachsene Tochter, seit einem halben Jahr ein Enkelkind und war am größten Kinder- und Jugendtheater der DDR engagiert.
»Das war’s«, sagte sie zum Schluss und meinte die Vergangenheit. Dann nahm sie mich in die Hand und strich mir liebevoll über das Loch unterhalb der Brust. »Der hat auch schon ein paar Macken«, sagte sie. »Bei dem hat das Leben auch ganz schöne Spuren hinterlassen.«
»Ja, wir sind alle drei älter
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