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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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vierzig Jahre alt. Er hatte einen Vollbart, eine Brille und wirkte sehr gepflegt.
    »Wo haben Sie den her?«
    Er zeigte auf mich. Es klang erstaunt, ungläubig, als fragte er nicht nach einem ollen Nussknacker, sondern nach einem seltenen Edelstein.
    »Jefunden«, kam vom Obdachlosen im Berliner Dialekt.
    »Gefunden?«
    »Jeep.«
    Der Mann schaute zweifelnd.
    »Darf ich mal?«
    »Wenn de den Kleenen danach wieder hinstellst …«
    Der Mann ging in die Hocke und griff nach mir. Er betrachtete mich aufmerksam, als suchte er nach etwas.
    Irgendwie kam er mir dabei plötzlich bekannt vor. Die Augen! Es waren die Augen, die ich schon einmal gesehen hatte. Doch es musste lange her sein. Sehr lange. Aber an Augen konnte ich mich schon immer gut erinnern. Auch der Mann schien sich nun zu erinnern.
    »Ich werd verrückt«, flüsterte er beinahe lautlos und wie benommen. »Das ist er!«
    »Wat?«
    »Nichts.«
    Plötzlich fiel es auch mir wie Schuppen von den Augen. Das war Max, der blonde Junge aus Plauen! Max, der beim Grenzübertritt scheiterte und mich an den Grenzbeamten verschenkte, weil er nicht mehr an das junge Mädchen aus Ungarn erinnert werden wollte, von dem er mich geschenkt bekam. Ich sah ihm an, dass er jetzt wieder an sie dachte. Wie hieß sie noch mal? Auch ich dachte nach. Irén! Genau, das Mädchen hieß Irén.
    Max dachte an Irén. Von der er vor vielen Jahren mich, den Nussknacker, als Abschiedsgeschenk bekommen hatte.
    Gedanken können Berge versetzen, heißt es. Ich wusste, das war normalerweise Schwachsinn. Gedanken versetzen meistens gar nichts. Sie bereiten einem höchstens einen schweren Kopf. Ich gebe zu, manchmal sind sie auch unterhaltsam und abwechslungsreich. Manchmal aber auch nicht. Gedanken sind eben Gedanken. Bisweilen sind sie heiter, manchmal traurig. Von Zeit zu Zeit so, dann wieder so. Und ab und zu lösen sie einen Gefühlstaumel aus. Wie jetzt bei Max.
    Wie er da vor dem Obdachlosen kniete, mit mir in der Hand, drohte er den Boden der Realität unter seinen Füßen zu verlieren, das sah ich ihm an. Er glitt in eine Traumwelt ab. In seine Traumwelt.
    Manchmal gehen Träume in Erfüllung, sagt man. Ich glaube eigentlich nicht daran. Normalerweise werden Träume nicht wahr. Aber es gibt immer eine Ausnahme von der Regel. Jetzt war der Zeitpunkt dafür gekommen. Nicht nur im Großen, auch im Kleinen. Nicht nur, dass die Mauer fiel, die fast dreißig Jahre lang ein Land geteilt und getrennt hatte. Auch dass etwas zusammenkam, was lange nicht zusammenkommen konnte.
    Manche würden das, was sich im Moment hier in Berlin in der Bornholmer Straße ereignete, einen Zufall nennen. Andere würden es vielleicht als Schicksal bezeichnen. Ich weiß nur, es war unbeschreiblich, unbegreiflich, unfassbar und unvorstellbar. Alles in einem. Und vor allem war es schön. Sehr schön sogar.
    Als Max noch immer vor dem Obdachlosen kauerte und mich in der Hand hielt, wobei er mich wie ein Schnitzel in der Pfanne hin- und herwendete, ging plötzlich eine Frau hinterMax’ Rücken vorbei. Sie kam vom Grenzübergang Bornholmer Straße aus dem Osten. Max beachtete sie nicht, drehte mich stattdessen weiter in der Hand hin und her, immer wieder, als würde er damit seiner Erinnerung Schritt für Schritt näher kommen. Mir schien, als hoffte er, auf diese Weise würde auch sein Wunsch in Erfüllung gehen, die Vergangenheit ein Stück weit ungeschehen zu machen. Zurückzubekommen, was er verloren hatte. Ein Wunsch, an den er sich nach dreißig Jahren immer noch klammerte.
    Ich sah die Frau im Augenwinkel hinter seinem Rücken vorbeihuschen und dachte mir zunächst nichts dabei. Doch als sie plötzlich wie vom Blitz getroffen stehen blieb, verwunderte es mich doch. Nur einen Meter von uns entfernt stand sie bewegungslos da, als brauchte sie einen Augenblick, um das Geschehene zu begreifen. Nicht den Mauerfall, nicht die Grenzöffnung, nicht dieses einmalige historische Ereignis. Nein, es war etwas anderes.
    Sie drehte sich langsam um und wandte sich dem Obdachlosen zu. Alles geschah wie in Zeitlupe. Sie stand nun hinter Max, der noch immer vor dem Obdachlosen hockte und mich in der Hand hielt.
    »Das gibt es doch nicht!«, flüsterte die Frau fassungslos und so leise, dass Max sie nicht hörte. Er schien sie noch gar nicht bemerkt zu haben, zu sehr war er mit mir beschäftigt.
    Nur der Obdachlose blickte die Frau jetzt wie eine Erscheinung an. Wie eine biblische Gestalt. Wie eine mystische Figur aus der

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