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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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sich langsam dem Ende zuneigte und alle Geschenke ausgetauscht waren, veranstalteten die Soldaten ein Fußballspiel. Pickelhauben wurden als Torpfosten aufgestellt. Dann ging’s los. Engländer gegen Deutsche. Irgendwie kam es mir aber so vor, als ob es nur eine Mannschaft gab, die hinter einer leeren Konservenbüchse herstürmte. Es war ein heilloses und lustiges Durcheinander. Wo vor ein paar Tagen noch Schüsse gepeitscht hatten, peitschten jetzt Worte durch den Wind.
    »Spiel ab, du Trottel!« oder »Tooor!«
    Wenn einer auf den Boden fiel, half der andere ihm wieder auf. Ob Engländer oder Deutscher, egal. Es ging nicht um ein Ergebnis. Es ging um ein gemeinschaftliches Spiel.
    Am Ende waren alle erschöpft, aber auch gut aufgelegt. Es wurde verabredet, das Spiel am nächsten Tag fortzusetzen.
    Dazu kam es leider nicht. Am nächsten Tag waren nämlich die Offiziere und Befehlshaber beider Parteien über die Geschehnisse informiert und unterbanden sogleich die Verbrüderungen. Sie zwangen ihre Männer unter Androhungschwerer Strafen, bis hin zur Todesstrafe, weiterzukämpfen. Keiner konnte den Schützengraben mehr verlassen.
    Dann fiel auch schon ein Schuss. Dann ein weiterer. Die zuvor noch friedlich Fußball spielenden Soldaten ballerten wieder wie Verrückte aufeinander und bekämpften sich bedingungslos.
    »Scheiß Krieg!«, zischte Franz.
    »Stupid war!«, schimpfte August.
    Der kurzzeitige Weihnachtsfriede war zu Ende. Die Hoffnung auf die Beendigung des Krieges war wie eine glitzernde, bunte Seifenblase zerplatzt. Das Töten ging so brutal weiter wie eh und je.
    * * *
    Bei einem der nächsten Angriffe, als Franz und August wieder den Schützengraben verlassen mussten, noch immer mit mir in der Manteltasche, wurde August von einer feindlichen Kugel getroffen. Er stürzte und schleppte sich in einen der Krater, in dem er erschöpft und schwer verletzt liegen blieb.
    Franz robbte unter feindlichem Beschuss heran. Er suchte ebenfalls in dem ausgehöhlten Krater Schutz, in dem das Wasser bis zu den Knien stand.
    »August, was ist?«
    »Mich hat’s erwischt!«
    »Verdammt! Hier, halt dich da fest, ich nehme dich auf die Schultern.«
    »Lass mal, Franz! Ist gut.«
    »Was ist denn?«
    »Es ist zu spät. Es ist vorbei.«
    »Nein, August!«
    »Doch, für mich ist dieser verdammte Krieg zu Ende.« Augusts Worte klangen leise und schwach. »Endlich! Ich habe ihn gleich hinter mir. Gott sei Dank habe ich diesen verdammten Krieg gleich hinter mir.«
    »Das darfst du nicht sagen, August!«
    »Doch, weil es die Wahrheit ist, auch wenn sie wehtut.«
    »August!«
    »Pass auf dich auf, Franz, und geh jetzt. Bring dich in Sicherheit. Nicht, dass du auch noch abgeknallt wirst.«
    »Ich lass dich hier nicht liegen!«
    »Lauf weg, Franz, lauf! Weg von diesem Krieg.«
    »Verflucht!«
    »Franz?«
    »Ja?«
    »Kannst du mir einen letzten Gefallen tun?«
    »Klar.«
    »Hier, in meiner Manteltasche.« August tippte kraftlos auf den verdreckten Stoff. »Siehst du den Nussknacker? Hol ihn heraus.«
    Franz griff in die Tasche und hielt mich in der Hand.
    »Gib ihn Paul, meinem Bruder. Er ist für ihn. Auch der Brief, der um den Nussknacker gewickelt ist. Versprich es mir.«
    »Klar.«
    »Geh jetzt!«
    »August!«
    »Pass auf dich auf!«
    »August! Nicht sterben.«
    Zu spät. August starb. Unter Qualen und Schmerzen.
    Ich verschwand in Franz’ Jackentasche, während ganz in der Nähe wieder Maschinengewehrsalven zu hören waren.

1916 – 1919, Bonn, Deutschland
    »August ist tot!«
    »NEIN!«
    Nachdem eine junge Frau die Wohnungstür geöffnet hatte, schrie sie so laut, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Sie rannte zurück in die Wohnung, die Hände vor den Mund gepresst.
    Ich stand mit Franz unschlüssig an der Eingangstür. Als die Frau nicht zurückkam, schob Franz die Tür mit einer seiner Krücken ein Stück weiter auf und humpelte in die Wohnung.
    In der Küche saß die junge Frau zusammengekauert auf einem Stuhl und starrte immer auf denselben Punkt an der Wand. Neben ihr stand ein Junge, vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahre alt, und weinte leise vor sich hin.
    Das muss Paul sein, der da mehr wimmert als weint , dachte ich, und die junge Frau ist bestimmt Sophie . Sie weinte nicht. Sie starrte einfach nur vor sich hin, mit weit aufgerissenen Augen und leerem Blick.
    Franz stand eine Weile daneben, seinen Beinstumpf auf der Krücke aufgestützt, wobei er mich noch immer in der Hand hielt. Als weder Paul noch

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