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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Sophie Anstalten machten, auch nur ein Wort von sich zu geben, sagte er: »Ich bin Franz, ein Freund von August.«
    Paul und Sophie schauten ihn an, als hätten sie ihn erst jetzt bemerkt. Dann sahen beide zu mir.
    »Für dich!«, sagte Franz und reichte mich Paul. Paul sah mich ungläubig an. Dann Franz, dann Sophie.
    »Nimm schon. Den soll ich dir von August geben. Den Zettel um den Bauch des Nussknackers auch. Du sollst ihn alleine lesen.«
    Paul betrachtete mich nachdenklich, als wollte er herausfinden, was er da in der Hand hielt. Mein Körper war vom Frost, der Nässe und dem Schlamm noch mehr in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Farbe an meinem Kopf und am Körper war fast abgeblättert. Es war kaum mehr etwas von mir zu erkennen. Ich schien tatsächlich durch diese scheußliche Zeit im Schützengraben zu einem gesichtslosen Stück Holz geworden zu sein.
    »Ich geh dann mal wieder«, sagte Franz in die Stille hinein, die entstanden war, und verließ die Küche. Kaum war er im Flur angekommen, humpelte er noch einmal zurück und sagte: »Tut mir leid.«
    Sophie starrte wieder teilnahmslos vor sich hin, und Paul weinte wieder leise.
    Lieber Paul,
    wenn du diese Zeilen liest, schau ich die Radieschen bereits von unten an. Obwohl es hier alles andere gibt als Radieschen, nämlichDreck, Todesangst, Läuse, Ratten, Stacheldraht, Flöhe, Granaten, Minen, Schlamm, Blut, unendlich viele Leichen und keine Hoffnung. Das ist die Hölle hier, Paul, die reine Hölle, wenn es sie denn gibt. Ein Teufelswerk. Das ist der wahre Krieg! Ich weiß, dass auch du mit dem Gedanken spielst, dich freiwillig zu melden. Paul, lass es! Ich bitte dich, mach nicht den Fehler, den ich gemacht habe. Das war das Grauenvollste, was ich in meinem kurzen Leben durchstehen musste. Es gibt Erfahrungen, auf die kann man gut und gerne verzichten. Krieg ist so eine Erfahrung. Es ist die Hölle. ›Gegen den Feind, für das eigene Blut‹, wie es immer so schön heißt! Schwachsinn! ›Heldentod!‹  – Schwachsinn! ›Kämpfen fürs Vaterland‹ – Schwachsinn! Was ist das für ein Vaterland, das Millionen Menschen in den Krieg schickt und in den Schützengräben an der Front verrecken lässt?! Warum gibt es überhaupt Krieg? Ich weiß es nicht. Offenbar muss er irgendjemandem nützen. Ich habe aber keinen getroffen. Keinen Einzigen. Paul, glaub es mir: Es lohnt sich nicht. Es lohnt sich nicht, in den Krieg zu ziehen und sich abschlachten zu lassen für – ja, wofür eigentlich? Das Leben ist zu kostbar, um es in einem sinnlosen Krieg zu opfern, und jeder Krieg ist sinnlos. Das Leben ist viel zu schön, zu aufregend, um es in einem dreckigen Schützengraben zu beenden, elendiglich wie ein Tier zu krepieren. Das habe ich leider erst hier schmerzlich erfahren müssen. Zu spät, wie du jetzt siehst. Aber für dich, Paul, ist es nicht zu spät. Du hast dein Leben noch vor dir, und dieser Krieg will es dir rauben, wie man Verhungernden den letzten Brotkrumen raubt. Vergiss das nicht. Dieser Nussknacker, den mir der Himmel geschickt hat, schicke ich dir jetzt. Damit du immer daran denkst – nicht an mich, Paul, sondern an das, was ich dir hier schreibe. Das ist vielleicht der einzige absurde Sinn dieses verdammten Krieges – wenn man überhaupt von Sinn sprechen kann –, dass du daran denkstund nicht so unvernünftig und gedankenlos bist, wie ich es war. Wer etwas anderes behauptet, wer von Ehre, Stolz auf das Vaterland und Verteidigung bis zum letzten Blutstropfen schwadroniert, der lügt! Glaub mir, Paul!
    Es ist saukalt hier, ich friere und zittre am ganzen Körper. Meine Kleider sind bis auf die Haut durchnässt. Ich liege im Schlamm, und Läuse feiern auf meinem Kopf jetzt schon meine bevorstehende Beerdigung. Ratten warten sehnsüchtig darauf, dass ich ins Gras beiße. Wenn du das liest, haben sie mich schon unter sich aufgeteilt. Ich vermute mal, selbst denen schmeckt ein so zugerichteter Körper nicht. Paul, es ist furchtbar hier. Ich bin erschöpft vom Töten, todesmüde und todmüde zugleich. Meine Finger können kaum mehr den Stift halten.
    Grüß Sophie von mir, umarme sie und sag ihr nichts von dem, was hier steht. Das würde ihre Trauer nur schlimmer machen. Aber ihr müsst jetzt stark sein, auch wenn es schwerfällt. Das Leben geht weiter, für dich und für Sophie. Ich bitte dich, Paul, denk immer daran, was hier steht. Solltest du dennoch ins Wanken geraten, nimm den Nussknacker und schau ihn dir an. Er hat alles gesehen. Wenn

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