Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
du ihm zuhören kannst, kann er es dir immer wieder erzählen, bis du es nie mehr vergisst. Leb wohl, Paul, und pass auf dich auf. Und auf Sophie.
Dein dich über alles liebender August
In Pauls Zimmer hingen Papierbögen aus Augusts Block an der Wand. Es waren die Zeichnungen und die eng beschriebenen Seiten. Aber auch andere, großformatige bunte Bilder waren auf Holzrahmen gespannt und an die Wand gelehnt. Das also waren die Bilder, von denen August immer sprach. Er hatte recht. Das war einmalig. So etwas hatte ich noch niegesehen. Es sah aus wie eine mit kräftigen Farben und einfachen Formen ausgedrückte Gefühlswelt, der man sich nicht entziehen konnte. Oft stand Paul lange vor den Gemälden und blickte beeindruckt darauf.
»Ist das nicht faszinierend?«, fragte er. Da niemand außer mir im Zimmer war, konnte die Frage nur an mich gerichtet sein. Noch ehe ich antworten konnte, ergänzte er: »Das möchte ich auch können!«
Paul begann ebenfalls zu malen. Er stand Tag und Nacht im Atelier seines verstorbenen Bruders und bemalte in rasender Geschwindigkeit Leinwände und Papierbögen. Er malte so, wie August malte. Oder besser, er versuchte so zu malen. Er warf die Farbe mit breiten Pinseln geradezu auf die Leinwand. Er malte bunte Landschaften oder Leute, die in Gruppen unter Bäumen spazierten. Oder Selbstporträts mit roten Gesichtern, schlafend auf Liegestühlen ausgestreckt. Alles mit dicken Strichen und in kräftigen Farben – rot, blau, grün, gelb –, die oft aussahen wie offene Wunden und den Anschein erweckten, auslaufen zu wollen. Raus aus dem Bild und hinein ins Leben. Ich fand, dass die Bilder ganz gut aussahen. Vielleicht nicht ganz so großartig wie die von August, aber ähnlich interessant. Paul fand das nicht.
»Verflucht!«
Er schrie es immer öfter und warf die Leinwände um. Er zerbrach Pinsel und zerstörte bereits gemalte Bilder. Er überpinselte immer wieder die Leinwände, sodass auf einem Bild immer mehrere Landschaften und Selbstporträts waren.
»Schau nicht so blöd!«, fuhr er mich an. Auch ich wurde von seinem Zorn nicht verschont. »Du glaubst wohl auch, ich sei zu allem unfähig, was?«
Nein , dachte ich. Nein, ich glaube gar nichts .
»Ich bin noch zu ganz anderen Dingen imstande«, sagte Paul trotzig und machte sich daran, die Leinwände erneut zu übermalen. Er malte aber keine Landschaften mehr, wie August sie gemalt hatte. Jetzt malte er mich. In einem Stil, den ich noch nie gesehen hatte. Er malte mich hässlich. Noch hässlicher, als ich mich ohnehin schon fühlte. Ich sah völlig zersplittert aus. Zusammengesetzt aus unterschiedlichen Perspektiven, von oben, unten, links, rechts, in einem einzigen Bild verwoben. So hatte ich mich noch nie gesehen. Und ehrlich gesagt, wollte ich mich so auch nicht sehen. Ich wusste auch gar nicht, was Paul damit erreichen wollte. Vielleicht musste er mich so malen, wie er zuvor so malen musste wie August. Vielleicht war das die einzige Möglichkeit, die Trauer um seinen Bruder zu verarbeiten. Und vielleicht war ich, so wie er mich malte, die einzige Möglichkeit, seine Wut über sein Misslingen auszudrücken.
Na, dann mal schön weiter , dachte ich, wenn’s hilft .
* * *
Die Versorgungslage wurde immer dramatischer. Je länger der Krieg dauerte, umso schlechter ging es der Bevölkerung. Nicht nur, dass die Männer in den Krieg mussten und oft verwundet oder gar nicht mehr zurückkehrten, es herrschte Mangel an allem. Mit jedem Kriegsjahr gab es weniger zu essen. Viele Menschen fuhren aufs Land und versuchten, bei Verwandten etwas zu ergattern. Aber auch die hatten jetzt selbst kaum noch etwas. Meistens gab es Kohlrüben und Krautsuppen, die Paul schon nach kürzester Zeit zum Hals raushingen. Manchmal konnte er im Schwarzhandel ein paar Eier, ein bisschenButter oder ein paar Scheiben Schinken gegen Manschettenknöpfe oder eine alte Taschenuhr eintauschen. Das reichte natürlich hinten und vorne nicht, sodass Hunger an der Tagesordnung war.
Der Kaiser mahnte trotz dieser bedenklichen Lage zur Geschlossenheit und dazu, »bis zum letzten Blutstropfen für das Vaterland zu kämpfen«.
Ab und an ließ er sich auch noch feiern. Wenn er Geburtstag hatte, fuhr er in einer Kutsche durch die Straßen und erwartete, dass die Leute ihm zujubelten. Dabei sah er mit seinem gezwirbelten Schnurrbart ziemlich albern aus. Der Schnurrbart war zu dieser Zeit bei allen Männern, die einen Bart trugen, groß in Mode, als hätte der Kaiser es
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