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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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widrigen Umstände.
    Es gab Zigaretten, Zigarren und Pakete, die ihnen die Familien geschickt hatten. Dicke Socken waren darin und Briefe, Süßigkeiten und Kekse. Für kurze Zeit roch es im Schützengraben nicht mehr ganz so stark nach Dreck und Fäulnis, sondern nach Lebkuchen und Nüssen, Äpfeln und Stollen, Tannennadeln und Weihnachten.
    Es wurde ganz still. August, Franz und die anderen starrten in die brennenden Kerzenflammen und waren mit ihren Gedanken da, wo sie die Jahre zuvor immer gewesen waren. In dieser andächtigen Stimmung fing Franz zu singen an, wie er es früher wohl auch getan hatte, zuerst mit zittriger Stimme, dann immer kräftiger. Andere Soldaten fielen ein. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Lied im Schützengraben, bis aus Hunderten von Kehlen über das Schlachtfeld hinweg »Stille Nacht, heilige Nacht« erklang.
    Selbst August sang mit. Mancher bekam feuchte Augen. Auch ich war gerührt. Ein so feierlicher Akt inmitten eines so bestialischen Krieges!
    Es kam aber noch besser. Das unglaubliche wurde wahr! Kaum waren die letzten Töne verklungen, hörte man von der anderen Seite, wo der Feind, die Engländer, ebenfalls imDreck vergraben waren und in Schützengräben liegen mussten, »Merry Christmas!«
    Jetzt sangen die Engländer. Zuerst leise, dann immer lauter. Sie sangen ebenfalls ein Weihnachtslied. August, Franz und die anderen schauten sich verwundert an. Sie konnten es nicht glauben, aber von drüben, keine fünfzig Meter entfernt, wehte ihnen mit dem kalten Wind das warmherzige »Merry Christmas« entgegen.
    Sie lachten, klatschten und riefen den Engländern »Fröhliche Weihnachten!« zu, so laut sie konnten. Schließlich stimmten sie in das Lied ein.
    Das gibt’s doch nicht , dachte ich. Engländer und Deutsche, Soldaten, verhasste Feinde, die noch vor ein paar Stunden aufeinander geschossen hatten, sangen jetzt gemeinsam vereint »Merry Christmas«.
    Eine Mundharmonika fiel in das Lied ein. Dann sah ich, wie auf der anderen Seite brennende Kerzen auf die Brustwehr gestellt wurden. Dann Christbäume, ebenfalls mit brennenden Kerzen. An den Schützengräben entlang loderte jetzt ein Kerzenmeer, hüben wie drüben.
    »August! Schau mal! Das ist doch  …« Franz sagte es mit brüchiger Stimme. »Ein Engländer! Da drüben! Mit einer Taschenlampe!«
    »Der leuchtet sich an!«
    »Jetzt kann man sein Gesicht erkennen!«
    »Der verlässt den Schützengraben!«
    »Ist der wahnsinnig?«
    Vor Staunen blieb ihnen der Mund offen stehen.
    Der traut sich was! , dachte ich. Normalerweise wäre er jetzt schon lange tot, abgeschossen von den Scharfschützen. Daswar nicht normal. Dieser englische Soldat lebte und ging ein paar Schritte vorwärts!
    »Der kommt auf uns zu«, sagte Franz verwundert. »Mit erhobenen Händen.«
    »Ja, und er ruft irgendwas!«, sagte August.
    »Was denn?«, wollte Franz wissen.
    »Merry Christmas«, sagte August. »We not shoot, you not shoot!«
    »Heißt das nicht, dass sie nicht schießen, wenn wir nicht schießen?«, fragte Franz, als wäre ihm die ganze Situation noch immer nicht geheuer.
    »Nicht schießen!«, rief August den Schützengraben entlang, so laut er konnte. Dann rief er dem Engländer entgegen: »I wish you the same!«
    »Was hast du gesagt?«, fragte Franz.
    »Dass ich ihm dasselbe wünsche!«
    »Und was?«
    »Fröhliche Weihnachten!«
    »Der kommt näher!«, rief ein anderer Soldat, ebenso fasziniert wie August und Franz.
    »Wo will der denn hin?«, fragte wieder ein anderer.
    »Zu uns!«, sagte August.
    »Aber wir sind doch der Feind«, erklangen mehrere Stimmen gleichzeitig.
    »come over here!«, rief der Engländer auf halbem Weg.
    »Was sagt er?«
    »Wir sollen rüberkommen«, übersetzte August. »Jetzt bleibt er stehen, am Stacheldraht.«
    »come over here!«, rief der Engländer noch einmal.
    »Ich gehe«, sagte August.
    »Bleib hier! Die knallen dich ab!«
    »Quatsch.«
    August legte sein Gewehr ab, füllte seine Pickelhaube mit Zigaretten und Tabak und kletterte über die Brustwehr. Er richtete sich auf, nahm den kleinen Tannenbaum mit den brennenden Kerzen in die Hand und stapfte los.
    Alle im Schützengraben sahen gespannt zu, was passieren würde. Ich steckte in der Manteltasche und blickte ebenso gespannt heraus. Ich traute meinen Augen nicht. Aber ich schwör’s! August ging auf dem Streifen Niemandsland zwischen der Front geradewegs auf den Engländer zu. Und der Engländer kam auf August zu. Sie stiegen über Drahtverhaue und

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