Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
die Lage auch wurde – Asija erweckte den Eindruck, als gäbe es für sie noch lange keinen Grund zu verzweifeln. Vielleicht war sie aber auch viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Leben zu organisieren, als dass sie Zeit gehabt hätte, sich Gedanken über die furchtbare Situation zu machen.
Jeden Tag stand sie kurz nach Sonnenaufgang auf. Sie wusch sich das Gesicht mit ein wenig Wasser, das sie aus einem Kanister in die hohle Hand goss. Anschließend putzte sie sich die Zähne und machte sich auf den Weg. Ich war von nun an immer mit dabei. Zuerst organisierte sie Wasser, Holz und Lebensmittel. Zum Teil durchkämmte sie die Ruinen und nahm mit, was sie finden konnte. Danach suchte sie das Hotel Intercontinental auf, in dem die ausländischen Journalisten untergebracht waren. Manchmal fiel dabei etwas zu essen ab. Manchmal ließ sich dort auch für ein paar Botengänge ein wenig Geld verdienen. Da Asija sich in Sarajewo besser auskannte als jeder ausländische Journalist, bot sie den Reportern und Fotografen an, sie bei ihren Einsätzen zu begleiten. Ab und zu nahm einer tatsächlich ihr Angebot an, wofür Asija dann ein paar Dollar zugesteckt bekam.
* * *
»Du kannst ziemlich gut Deutsch, was?«, sagte eine junge Frau in der Eingangshalle des Hotels. Ihr Haar war zu einem blonden Pferdeschwanz zusammengebunden.
Sie saß in einem der abgewetzten Sessel und trank Tee, als Asija mal wieder zwischen den aufgeregt herumwimmelnden Presseleuten ihre Dienste anbot.
»Ich kann Deutsch, Englisch und Serbokroatisch.« Asija redete jetzt in allen drei Sprachen auf die junge Frau ein. Die lachte aber nur und fragte: »Und woher?«
»Aus der Schule und von meinem Opa«, antwortete Asija. »Opa konnte ganz viele Sprachen. Vor dem Krieg war er Reiseleiter in Kroatien, in den Ferienorten Dubrovnik und Zadar.«
»Setz dich!«, sagte die Frau und bestellte Asija ein Glas Tee. »Und wo ist dein Opa jetzt?«, fragte sie dann.
»Tot.«
»Und deine Eltern?«
»Auch.«
»Du bist alleine?«
Asija nickte zuerst ganz kurz, um dann umso heftiger den Kopf zu schütteln.
Die Frau schien verwirrt zu sein. Asija zog mich aus der Tasche und zwinkerte der Frau zu. Die schien zu verstehen und zwinkerte zurück.
Der Tee wurde von einem schlaksigen Kellner gebracht, der das Glas auf dem niedrigen Glastisch abstellte. Anschließend wartete er, bis die Frau ihm ein wenig Geld zusteckte. Dann verschwand er wieder.
»Ich habe dich hier schon öfters gesehen«, sagte die Frau zu Asija und zeigte auf das Glas. »Trink.«
Asija trank.
»Ich wohne nicht weit von hier.«
»Hast du Hunger?«
Die Frau hob den Arm, woraufhin der schlaksige Kellner sofort wieder neben ihr stand.
»Bringen Sie Rührei. Du magst doch Rührei, oder?«
Asija nickte. Nachdem der Kellner wieder verschwunden war, fragte sie: »Was wollen Sie von mir?«
Die Frau lachte. Jetzt sah man ihre weißen Zähne.
»Du meinst, wenn man was gibt, will man auch etwas, oder?«
Wieder nickte Asija.
»Na ja, vielleicht hast du recht.« Sie überlegte. »Ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Übrigens, ich heiße Suzanna.«
»Was soll ich machen?«
»Du kennst dich hier gut aus, nicht wahr?« Suzanna warf einem Kollegen, der die Eingangshalle des Hotels durchquerte, ein Kusshändchen zu.
»Sehen wir uns heute Abend?«, rief der Mann durch die Halle.
»Vielleicht«, rief Suzanna zurück.
Der schlaksige Kellner kam mit dem Rührei.
»Und du kannst drei Sprachen?«, sagte Suzanna jetzt zu Asija und nahm das Gespräch wieder auf.
Der Kellner stellte das Rührei auf dem Tisch vor der Frau ab. Die schob den Teller ein Stück weiter zu Asija. Asija machte sich sofort über das Rührei her, als hätte sie schon lange nichts Warmes mehr zu essen gehabt, geschweige denn ein Rührei.
»Also, was ist? Willst du dir ein paar Dollar verdienen?«
Asija bejahte, ohne vom Teller aufzublicken.
»Du könntest mich begleiten und dolmetschen.«
Asija wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab.
»Hat es geschmeckt?«
»Hab schon Schlechteres gegessen.«
»Das war aber schon länger her, was?«
»Stimmt.«
Suzanna stand auf und sagte: »Na, was ist? Gehen wir?«
Vor dem Hotel, neben einem Auto, auf dem mit großen Buchstaben »Press« stand, wartete ein junger Mann von vielleicht achtzehn Jahren.
»Das ist Bajro«, sagte Suzanna. »Mein Fahrer.«
Der Junge hob die Hand und lächelte.
»Asija«, sagte Asija und lächelte ebenfalls.
»Sie wird uns von nun an begleiten.«
Wir stiegen ein.
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