Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
schnell sie konnte. Sie verschanzte sich hinter den aufgestapelten Sandsäcken, ließ sich neben dem Mann nieder, in dessen Mundwinkel eine Zigarette klebte, und setzte sich auf einen der prall gefüllten Säcke.
»Dobredan, Asija«, sagte der Uniformierte. Asija lächelte. »Na, wie geht’s?«
Während er sprach, nahm er die Zigarette nicht aus dem Mund, sodass sie bei jedem Wort auf und ab wippte. Es sah aus, als wäre sie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden hing.
»Geht so. Und Ihnen?«
Der Mann mit der Uniform blies den Zigarettenrauch aus.
»Wann fängt die Schule wieder an?«
Der Mann hob die Schultern, überlegte und sagte dann: »Wenn dieser ganze Wahnsinn hier vorbei ist.« Er schlug mit der Hand gegen die Sandsäcke, dass es staubte.
»Was glauben Sie, wie lange kann die Stadt sich noch gegen die Angriffe wehren?«
Wieder hob er die Schultern, diesmal höher als zuvor, und furchte die Stirn. Es schien, als hätte er bis jetzt noch nicht darüber nachgedacht. Dann sagte er, während er wieder an der Zigarette saugte wie ein Säugling an der Mutterbrust: »Hm, gute Frage. Wenn keine unterstützung von außen kommt – weiß nicht. Ein paar Wochen vielleicht.«
Er zog erneut an der Zigarette.
»Jetzt haben sie auch noch den Flughafen einkassiert.«
Er blies den Rauch in Richtung der Sandsäcke.
»Wir werden aber bis zum Ende kämpfen.«
Er nahm einen letzten Zug und schnipste die Zigarette auf die Straße, wo sie in einem mit Wasser gefüllten Krater zischte.
»Aber jetzt kommt erst mal der Winter. Wenn wir den überleben, sieht es schon wieder besser aus«, fügte er hinzu und hustete.
Asija stand auf.
»Pass gut auf dich auf, Asija, ja?« Der Mann hielt sie am Ärmel fest.
»Klar«, sagte Asija und drehte sich noch einmal um. »Ich hab ja ihn!«
Sie hob mich in die Höhe.
»Ah, verstehe«, sagte ihr ehemaliger Mathelehrer und lächelte. »Dein Schutzengel, was?«
Asija nickte.
»Und wenn du was brauchst, sag Bescheid«, rief er ihr hinterher.
Asija machte sich gebückt und mit eingezogenem Kopf davon.
* * *
Asija wohnte in einem winzigen Zimmer im Erdgeschoss eines ziemlich zerfallenen Hauses unweit der Nationalbibliothek. Die oberen Stockwerke waren eingefallen. Nur das Erdgeschoss und der erste Stock waren noch bewohnbar. Außer Asija schien niemand im Haus zu sein.
»Die anderen sind tot oder weg«, sagte sie. »Jetzt habe ich das Haus für mich alleine. Ich wollte schon immer ein eigenes Zimmer haben. Jetzt habe ich eins.«
Und was für eins , dachte ich.
»Hier, schau!«
Das Zimmer war auch tagsüber dunkel, weil die Fenster mit groben Brettern zugenagelt waren.
Nur durch winzige Schlitze fiel in schmalen Streifen Tageslicht ins Zimmer, wodurch es noch gespenstischer wirkte.
»Das ist sicherer.« Asija zündete ein paar Kerzen an, die überall im Zimmer verteilt waren. »Strom und fließendes Wasser gibt es nur selten.«
In der Mitte des Zimmers stand ein großes Bett, auf dem ein ganzer Berg dicker Daunendecken lag.
»In der Nacht wird es bitterkalt«, sagte Asija wie zur Erklärung. »Und der Ofen bringt’s auch nicht wirklich.«
Sie zeigte auf einen alten Kohleofen, der in der Ecke stand und vor dem aufeinandergeschichtete Holzteile lagen, die aussahen, als hätten sie mal zu einem Schrank gehört.
Asija kniete sich vor den Ofen. Sie öffnete das Ofentürchen, riss ein paar Seiten aus einem Buch und zündete sie an.
»Mein Mathematikbuch.« Sie hielt die brennenden Seiten hoch und warf sie in den Ofen. »Wenn ich von den Zahlen schon nichts mehr lernen kann, sollen sie mich wenigstens wärmen.«
Anschließend legte Asija kleine Holzscheite nach. Es qualmte so stark, dass sie kaum die eigene Hand vor den Augen sehen konnte. »Der zieht nicht richtig.« Sie hustete und blies ins Feuer, sodass es noch mehr qualmte. »Dafür dauert es nicht lange, dann ist es schön warm.«
Und tatsächlich, als der Rauch sich ein wenig verzogen hatte, nistete sich wohlige Wärme in dem kleinen Zimmer ein, während draußen wieder Schüsse und Detonationen zu hören waren.
Wie kann man hier nur leben? , dachte ich.
Das Mädchen sagte, als könnte sie meine Gedanken lesen: »Überleben, nicht leben.«
Sie grinste frech.
* * *
Je länger ich bei Asija war, umso erstaunlicher kam mir dieses vielleicht zwölfjährige Mädchen vor. Trotz der katastrophalen Lebensbedingungen in dieser eingeschlossenen Stadt schien sie den Kopf nie hängen zu lassen, im Gegenteil. So schlimm
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