Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
kannst es nicht mehr biegen?«
»Exakt.«
»Wo ist das passiert?«
»An der Sniperstraße.«
»Ein Heckenschütze?«
»Exakt.«
»Shit.«
Bajro hob die Schultern.
»Na ja, muss ich schon nicht an die Front.«
Es klang ein wenig erleichtert.
»Ich habe eigentlich keine Lust, Menschen abzuknallen. Auch nicht welche, die ich nicht mag«, fügte er hinzu. »Ist doch komisch, vor ein paar Monaten waren es noch unsere Nachbarn, und jetzt sollen wir auf sie schießen, weil sie auf uns schießen. Oder?«
»Hm«, machte Asija.
»Da fahre ich lieber sensationslüsterne Reporter durch die Gegend.«
»Hast du eigentlich einen Führerschein?«, wollte Asija wissen.
Bajro lachte. »Im Krieg braucht man keinen Führerschein. Nur gute Nerven und viel Glück.«
Jetzt lachte auch Asija, und ich zählte wieder die Einschusslöcher. Solange, bis Asija plötzlich fragte: »Sag mal, wie alt bist du eigentlich?«
Bajro überlegte.
»Für alle anderen achtzehn.«
»Und für mich?«
Wieder dachte er nach.
»Sechzehn.«
Vermutlich war auch das gelogen.
»Und du?«, fragte Bajro nach einer langen Pause, nachdem weder ich noch Asija damit gerechnet hatten.
»Fünfzehn.« Sie sah dabei Bajro direkt in die Augen.
Das war sicher auch gelogen , dachte ich. Asija war höchstens dreizehn. Offenbar wollte sie Bajro imponieren.
Wieder schwiegen sie. Bis Suzanna schließlich eilig aus dem Hotel gerannt kam, mit umgehängter Fototasche, die Jacke noch in der Hand, und rief: »Los, schnell, wir müssen zum Parlamentsgebäude. Ein Anschlag.«
Alle sprangen in den Wagen. Bajro gab Gas, dass die Reifen auf dem Asphalt durchdrehten, bis es qualmte.
* * *
Seit Asija Suzanna begleitete und für sie dolmetschte, schien es ihr deutlich besser zu gehen. Jetzt hatte sie ein bisschen mehr Geld zur Verfügung und konnte sich hin und wieder etwas leisten, was zuvor schier unmöglich gewesen war. Manchmal kaufte sie sich auf dem Markt Bananen oder Apfelsinen und ließ die Schnitzen auf der Zunge zergehen, als wären sie viel zu kostbar, um darauf herumzubeißen. Wie das Obst auf den Markt gelangte, war mir völlig unverständlich. Die Stadt war belagert. Alle Zugänge und Straßen, die in die Stadt führten, waren von bewaffneten Truppen abgesperrt. Auf den Hügeln um Sarajewo hockten serbische Soldaten mit Granatwerfern und beschossen bei jeder Gelegenheit die Stadt. Offenbar sollten die Einwohner, die sich weigerten, ihre Stadt zu verlassen und aufzugeben, zur Kapitulation gezwungen werden. Sarajewo war völlig isoliert und abgeriegelt. Dreihunderttausend Menschen saßen seit über einem Jahr hier fest, konnten weder rein noch raus. Auch Lebensmittel und Getränke hätten eigentlich nicht in die Stadt gelangen können, und doch lag in den Körben der Verkaufsstände auf dem Markt Obst, das unmöglich hier gewachsen sein konnte. Der Flughafen wurde kontrolliert. Nur mit Zustimmung der Vereinten Nationen konnten gelegentlich Verletzte ausgeflogen und ab und zuMedikamente eingeflogen werden. Viele versuchten zu fliehen. Die meisten wurden dabei festgenommen oder erschossen. Also musste es doch noch einen geheimen Zugang geben, von dem zumindest ich nichts wusste. Offenbar beschäftigten Suzanna ähnliche Gedanken, als sie eines Tages Asija zur Seite nahm.
»Hier soll es einen Tunnel geben, der von Sarajewo nach draußen führt. Weißt du was davon?«
»Wie soll ich denn …«
»He, Asija, ich sehe dir doch an, dass du was weißt, oder?«
Asija zuckte mit den Schultern und schaute zu Boden. Sie wusste etwas, das war klar.
»Wie lange kennen wir uns jetzt?«, fragte Suzanna.
Asija dachte nach.
»Fast ein Jahr.«
»Ganz schön lange.«
»Ja.«
Worauf wollte sie hinaus?
»Habe ich dich in der langen Zeit jemals hinters Licht geführt?«
»Nö.«
»Konntest du mir während dieser Zeit immer vertrauen?«
»Ja.«
»Na also.«
»Was, na also?«
»Spuck’s schon aus.«
»Es ist geheim, Suzanna.«
»Ja, klar.«
»Du darfst nichts darüber schreiben.«
Suzanna sah jetzt neugierig aus.
»Wenn das rauskommt, ist alles aus.«
»He, du kannst mir vertrauen.«
Sie legte ihre Hand auf Asijas Schulter. Asija schob die Hand weg, hielt sie aber fest.
»Du schwörst, dass du nichts darüber schreiben wirst?«
»Ich schwöre.«
Suzanna hob die Hand und spreizte zwei Finger zum Schwur.
»Und dass du mit niemandem darüber reden wirst.«
»Was soll das?«
»Schwör’s!«
»Okay, okay, ich schwör’s.«
Wieder hob sie die
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