Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
geworden.« Max strich mit dem Zeigefinger über Iréns Wange. »Aber du bist noch immer wunderschön.«
Sie umarmten sich wieder und küssten sich, während draußenimmer mehr Menschen auf den Straßen unterwegs waren und die Grenzöffnung bejubelten. Auch auf dem kleinen Fernsehbildschirm, der in der Gaststätte auf einem Bord unter der Decke hing, wurde schon den ganzen Abend das unglaubliche gesendet. Tausende von Menschen passierten mittlerweile die Grenze an der Bornholmer Straße. Der Schlagbaum war gefallen. In der nächsten Stunde konnten 20 000 Personen ohne Kontrolle die Bösebrücke passieren, die Ost und West verband. Dadurch gelangten sie vom ostdeutschen Stadtteil Prenzlauer Berg in den westdeutschen Stadtteil Wedding. Auch die anderen Grenzübergänge öffneten jetzt, sodass in ganz Berlin die Ostbürger nach Westberlin einreisen konnten. Manche kletterten auf die Mauer, tanzten darauf herum und riefen: »Frei! Wir sind frei!«
* * *
»Ist das Zufall?«, fragte Max irgendwann.
»Es gibt keine Zufälle.« Irén zeigte auf mich. Dann drückte sie mir einen Kuss auf meinen zusammengeleimten Mund. Er schmeckte nach Himbeere, was an der Bowle lag, die sie schon den ganzen Abend trank.
Ein wenig beschwipst fragte sie weit nach Mitternacht: »Und was machen wir jetzt?«
»Jetzt bleiben wir für immer zusammen«, kam ebenfalls ein wenig betrunken von Max zurück. »Natürlich nur, wenn du willst.«
»Und ob ich will.« Wieder küssten sie sich, diesmal länger als zuvor.
Und das erste Mal seit vierundzwanzig Jahren blieb Irén über Nacht im Westen der Stadt. Bei Max.
1990 – 1991, Venedig und Duisburg, Italien und BRD
Die beiden deutschen Staaten, die BRD und die DDR, wurden am 3. Oktober 1990 wiedervereinigt. Irén und Max heirateten am selben Tag in Berlin. Anschließend fuhren sie zusammen mit dem geliehenen Trabant einer Kollegin von Irén in die Flitterwochen nach Italien. Ich war natürlich mit von der Partie.
Während der gesamten Reise staunte Irén, was sie vom Westen alles sah, wenn sie aus dem Seitenfenster des Wagens schaute. Kein Wunder, war es doch das erste Mal seit Jahrzehnten, dass sie im Westen war. Obgleich da fast nur Autobahnen zu sehen waren. Max staunte weniger. Beide schienen aber sehr glücklich zu sein.
Sie waren ziemlich erschöpft, als sie nach zwei Tagen Fahrt und nur wenigen Pausen endlich in Venedig ankamen, in der Stadt der Verliebten.
Es schien aber nicht nur die Stadt der Liebe zu sein, sondern auch die des Diebstahls. Als Irén und Max in den engenGässchen und auf den schnuckeligen Brücken unterwegs waren, während ich im abgestellten Trabant ausharren musste, dauerte es keine Stunde, bis der Wagen aufgebrochen war und alles, was von Wert zu sein schien, von vier Jugendlichen herausgeklaut wurde. Darunter auch ich. Was für mich und meinen Wert sprach.
Aber nicht lange. Denn bei der gemeinsamen Einschätzung und Klassifizierung des Diebesguts durch die jugendlichen Kriminellen konnten diese, wie es schien, nicht viel mit mir anfangen.
»Wer will den?«, fragte ein Junge und hielt mich hoch wie einen defekten Pürierstab.
Als sich keiner meldete, sagte er schließlich wenig überzeugend: »Na gut, dann behalt ich ihn eben selber.«
Die anderen drei lachten schadenfroh. Einer konnte sich einen Kommentar dann doch nicht verkneifen. Er schlug vor, mich wieder nach Germany zurückzuschicken, von wo ich ja herkäme.
»Genau, zu Luigi!«, kam von einem anderen.
Mir war nicht ganz klar, ob es ernst gemeint war. Dennoch merkte ich meinem neuen Besitzer an, dass er den Vorschlag mit Stirnfalten und nachdenklichem Blick abwog.
»Gute Idee!«, sagte er schließlich. »Luigi freut sich vielleicht.«
* * *
Luigi freute sich nicht.
»Was soll ich mit dem Scheiß?«, sagte er in der Küche der italienischen Pizzeria in Duisburg Marxloh. »Ich bin doch keine fünf mehr!«
Nein, er war vielleicht fünfzehn, womöglich auch schon älter. Er trug eine weiße Schürze um den Bauch und stand vor einem mit Mehl bestreuten Brett, auf dem ein Teigklumpen lag.
»Du kennst doch Giuseppe!«, sagte seine vielleicht fünf Jahre ältere Schwester und lachte ebenso schadenfroh wie die italienischen Jungs in Venedig.
»Giuseppe ist ein Idiot!«, erwiderte Luigi und musterte mich abfällig.
»Wenn du ihn nicht willst«, sagte seine Schwester, »stecke ich ihn in den Sack.«
Luigi schaute sie an, als wäre auch sie von Giuseppe angesteckt worden.
»Was für ’n
Weitere Kostenlose Bücher