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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Sack?«
    »Rotes Kreuz. Wird nächste Woche abgeholt.«
    Luigi schüttelte ungläubig den Kopf. Dann warf er mich quer durch die Küche seiner Schwester in die Arme.
    »Irgendwer wird schon Verwendung dafür haben.«

1992 – 1994, Sarajevo, Bosnien, Jugoslawien
    Ich wurde in einen weißen Sack mit einem roten Kreuz gesteckt. In dem Sack befand sich Spielzeug. Puppen, Teddybären, Fußbälle, Barbies, Plastikautos und so weiter. Der Sack wurde zugebunden und zu anderen Säcken in einen Container geworfen. Wohin die Reise ging, war mir schleierhaft. Dass sie aber irgendwann enden würde, war abzusehen und abzuwarten. Ich versuchte mich inmitten des Spielzeugs so gemütlich einzurichten, wie es eben ging, schloss die Augen und dachte an Schöneres, weil das, wie ich wusste, manchmal half.
    Ich dachte an Wilhelm, den kleinen Sohn des Holzschnitzers aus Oberammergau. Ich erinnerte mich noch gut an ihn. Wilhelm musste mittlerweile auch schon steinalt sein. Wie die Zeit vergeht!
    Noch ehe ich länger über die Vergänglichkeit der Zeit nachdenken und darüber sentimental werden konnte, wurde der Sack schon wieder geöffnet. Alles was darin war, wurdeauf einen Fußboden gekippt, der nach Benzin und Wachs roch.
    Da lag ich dann und starrte zur Decke, während Stimmen durcheinanderredeten. Die Decke sah aus, als wäre sie von einer bösartigen Hautkrankheit befallen. Überall bröckelte der Putz; große Stücke waren von der Decke gefallen und gaben den Blick auf den nackten Stein preis. An anderen Stellen sah die Decke perforiert aus, als wäre sie mehrmals mit Gewehrkugeln beschossen worden.
    Plötzlich schob sich das Antlitz eines Mädchens in mein Gesichtsfeld. Sie hatte eine Rotznase, rote Wangen und traurige Augen, die aber sofort freundlicher guckten, als sie mich entdeckten.
    »Nimm ihn dir, wenn du willst«, hörte ich eine Stimme.
    Das Mädchen griff zu, sagte »Danke« und war kurze Zeit später unterwegs nach draußen, wobei sie mich in der Hand hielt.
    Auf der Straße verschlug es mir beinahe den Atem. Es sah aus, als wäre ich schlagartig fünfzig Jahre zurückversetzt worden. Ja, es erinnerte mich eindeutig an Mitte der Vierzigerjahre in Berlin. Es war verrückt. Als wäre die Zeit stillgestanden. Ich traute meinen Augen nicht. Wir hatten das Jahr 1992, und die Häuser waren durchlöchert wie Nudelsiebe oder ganz in sich zusammengefallen. Jedes zweite Haus war eine Ruine. Sie sahen aus wie verkohlte Skelette am Straßenrand. Die Fenster waren entweder ganz herausgebrochen und blickten wie schwarze, tote Augen, oder die Fensterscheiben waren zersprungen und durch rote Plastikfolien vor den Fenstern ersetzt worden. Die Straßen waren mit tiefen Kratern übersät, in denen sich das Wasser zu schmutzigen Pfützensammelte. Ausgebrannte Linienbusse standen am Straßenrand, und Autowracks blockierten die Fahrbahn. Es sah aus wie ein Schlachtfeld.
    »Das ist Krieg«, sagte das Mädchen und fügte hinzu: »Und eigentlich normal, seit ein paar Monaten.«
    Mit eingezogenem Kopf rannte sie im Schutz der Häuser auf dem Trottoir entlang durch die Straßen, während immer wieder Schüsse knallten. In der Ferne hörte man Kanonendonner. Das Mädchen verschanzte sich in einem Hauseingang, bei dem die Eingangstür fehlte und der Stein porös aus der Mauer schaute.
    »Du darfst keine Angst haben«, sagte sie. »Dann ist es halb so schlimm.«
    Wie soll man keine Angst haben, wenn man das hier alles sieht? , dachte ich.
    »Denk an etwas Hübsches, das hilft manchmal.«
    An was denkst du denn? , wollte ich fragen. Doch ehe ich ein Wort herausbekam, sagte das Mädchen schon: »Ich denke an den Frieden und daran, wie es ist, morgens nicht von Granateneinschlägen und Gewehrsalven wach zu werden. Ich denke daran, jeden Morgen in die Schule gehen zu können. Verrückt, nicht wahr? Früher mochte ich gar nicht in die Schule gehen, und jetzt sehne ich mich danach. Aber die meisten meiner Mitschüler sind nicht mehr hier. Sie haben die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sind geflüchtet. Aber viele sind tot. Und die Lehrer sind jetzt Soldaten und versuchen, die Stadt zu verteidigen. Der da vorne, zum Beispiel, ist mein Mathelehrer.«
    Sie zeigte auf die aufgestapelten Sandsäcke am Ende der Straße, hinter der ein paar uniformierte Männer hockten. Einerder Männer winkte. Eine Katze humpelte über die Straße und verschwand in einer der Hausruinen.
    Das Mädchen huschte gebückt aus dem Hauseingang und flitzte über die Fahrbahn, so

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