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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Gesetzestexte zu berufen. Zumindest reichte es der Bevölkerung nicht, für die diese Gesetze eigentlich gemacht sein sollten. Denn die Leute hielten sie für unmenschlich und hartherzig.
    Als dann auch noch das Fernsehen über den Fall berichten wollte, schien wieder Hoffnung ins Pfarrhaus einzuziehen.
    * * *
    Es schneite. Viele Leute waren ins Pfarrhaus gekommen und saßen um den Fernsehapparat herum. Sie warteten gespanntauf die Sendung, in der ein Beitrag über Sabiah, ihre Familie und deren Kampf um das Bleiberecht gebracht werden sollte. Als die ersten Bilder vom Schicksal der Familie über den Bildschirm flimmerten, wurde es still im Zimmer.
    »Das bin ich!«, rief das Mädchen mit der Brille.
    »Pssst!«
    Julia war im Fernsehen tatsächlich auf dem Schulhof zu sehen. Sie sagte, ihre Freundin Sabiah müsse auf jeden Fall in Deutschland bleiben, sonst gehe sie mit ihr, wohin sie auch abgeschoben würde. »Und das kann doch keiner wollen, oder?«
    Alle schüttelten den Kopf. Manche kicherten.
    Auch andere meldeten sich in der Sendung zu Wort. Die Pastorin sagte, dass der Familie Senlik doch irgendjemand helfen müsse, und dass es auch Aufgabe der Kirche sei, ihnen Aufenthalt zu bieten, wenn sich schon das Land nicht dazu durchringen könne.
    »Die Senliks bekommen hier in der Kirche so lange Asyl, wie sie wollen«, sagte die Pastorin. Es klang kämpferisch. Alle um den Fernseher herum klatschten.
    Auch Politiker meldeten sich zu Wort. Manche sagten dies, andere jenes. Manche sprachen von einer »Härtefallkommission« und einem »Ermessensspielraum« und davon, dass man alles noch einmal prüfen wolle. Man müsse den Senliks ihren langjährigen Aufenthalt in Deutschland, die offensichtliche Bereitschaft, sich einzugliedern, und das Bemühen um Arbeit zugutehalten.
    »Genau!«, sagte Frau Schulz.
    »Genau!«, sagten alle anderen.
    Alle vor dem Fernseher im Pfarrhaus hatten das Gefühl,dass die Chancen für Sabiah, hierbleiben zu dürfen, durch die Sendung auf jeden Fall gestiegen waren.
    »Wir haben den Druck erhöht«, sagte die Lehrerin und strahlte. Die anderen strahlten ebenfalls. Auch Sabiah und ihre Eltern, zum ersten Mal seit Monaten.
    Doch die Freude wurde allen gleich wieder verdorben.
    »Was ist das denn?«, fragte die Pastorin entsetzt.
    Auf dem Bildschirm war ein brennendes Haus zu sehen.
    »Das ist hier … hier am Hafen.« Die Lehrerin klang nicht minder entsetzt.
    Tatsächlich, es war ein Haus in der Hafenstraße, das lichterloh brannte. Der Nachrichtensprecher lieferte die dazugehörigen Informationen.
    »Bei einem ausländerfeindlichen Angriff auf ein Asylbewerberheim in Lübeck sind heute früh mindestens zehn Menschen ums Leben gekommen«, sagte er mit ernster Stimme. »Drei Tatverdächtige aus Mecklenburg wurden festgenommen. Es war die bisher schwerste Brandkatastrophe in einer Ausländerunterkunft in Deutschland.
    Die Einsatzkräfte der Feuerwehr kämpften mehrere Stunden gegen die Flammen. Der Brand in dem viergeschossigen Altbau brach gegen drei Uhr vierzig aus. Am heutigen Abend wurden noch immer Bewohner vermisst. Siebenundvierzig Menschen aus Angola, Zaire, Libanon, Syrien und Polen waren in dem Heim gemeldet. Wie viele tatsächlich dort lebten, war zunächst nicht bekannt. Fünfzehn Verletzte mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. Mindestens fünf von ihnen schweben noch in Lebensgefahr. Mehr als zwanzig Leichtverletzte wurden ambulant behandelt. Unter den Toten sind sieben Kinder.«
    Die Freude wich Entsetzen, Fassungslosigkeit und Angst. Viele Kinder weinten.
    »Das ist doch … das kann doch nicht …« Die Pastorin rang um Fassung.
    »Das ist ja wie in Hoyerswerda, Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Solingen!«, sagte die Lehrerin und schüttelte unentwegt den Kopf.
    Was in Hoyerswerda, Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Solingen war, wusste ich nicht. Viele andere auch nicht.
    »Was war denn da?«, fragte Julia, das Mädchen mit der Brille, und sah die Lehrerin mit großen, fragenden Augen an.
    Frau Schulz schüttelte immer wieder den Kopf und sagte schließlich: »In Mölln wurden vor drei Jahren zwei Häuser von Neonazis angezündet. Dabei kamen zwei vierzehnjährige Mädchen und eine Frau ums Leben. In Rostock-Lichtenhagen haben rechtsextremistische Randalierer vor allem vietnamesische Menschen angegriffen. In Hoyerswerda wurden Asylbewerber von Neonazis terrorisiert, und in Solingen wurde vor zwei Jahren ein Haus von den Rechtsextremen in Brand gesetzt. Dabei starben drei

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