Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
kann ja heiter werden , dachte ich.
Wurde es auch. Was vor allem an den Familienangehörigen lag, die alle, jeder für sich, ein bisschen seltsam wirkten. Nicole,die älteste Tochter der Gässlers, lebte zurückgezogen in ihrem Zimmer, spielte Geige und wollte offenbar mit niemandem etwas zu tun haben, schon gar nicht mit den Eindringlingen aus dem Osten. Julius, der Sohn der Gässlers, ein kleiner dicker Junge im zarten Alter von dreizehn Jahren, interessierte sich nur fürs Essen, war ansonsten schweigsam und ausschließlich mit seinem Computer beschäftigt. Der Großvater Richard Gässler wiederum war ein Hallodri. Er schnorrte ständig, was immer er bekommen konnte – Zigaretten, Geld, Süßigkeiten –, und hatte das Gefühl, seine wievielte Jugend auch immer zu erleben. Auch die Eltern waren bemüht, konnten mit ihren Ostverwandten aber ebenso wenig anfangen. Sie schienen von Anfang an auf deren Abreise zu warten.
Nicht anders war es bei den Krauses aus Lutzo. Jenny fand alle Wessis arrogant und besserwisserisch. Oma Krause war auch im Westen wie im Osten nur mit sich und ihrem neuen Hobby beschäftigt. Die Esoterik hatte es ihr seit geraumer Zeit angetan. Sie las aus Händen, legte Tarot-Karten und wusste über die Zukunft vor allem der anderen bestens Bescheid. Auch von denen, die es nicht wissen wollten. Das Hobby von Oma Krause schien auch Opa Gässler zu interessieren. Er machte sich an die Alte heran, sodass beide, der Opa rauchend, die Oma Karten legend, die Tage zusammen verbrachten. Was Vater Krause auch wieder ein Dorn im Auge war. Er mahnte die Oma immer wieder, sie solle sich bloß zusammenreißen. Auch Ronny hatte sich neben der Oma als Einziger ganz gut im fremden Haushalt arrangiert. Er interessierte sich für die Geige spielende Nicole und weniger für mich. Dafür entdeckte mich jetzt Oma Krause »als höchst interessantes spirituelles Geschöpf«, wie sie sich ausdrückte.
Die hat nicht mehr alle Tassen im Schrank , dachte ich.
Auch Vater Krause schien Ähnliches zu denken und tippte sich an die Stirn. Die anderen lachten oder blickten skeptisch drein. Nur Opa Gässler nickte. Er zog an seiner Zigarette und sagte: »Klar, das ist ein Fetisch, ein Voodoo-Nussknacker, von dem bezüglich der Zukunft einiges zu erwarten ist.«
Jetzt tippte sich Vater Gässler an die Stirn. Die anderen schüttelten den Kopf.
Mein Schicksal in den Händen der ostdeutschen Großmutter, attestiert vom westdeutschen Großvater, schien besiegelt. Und Ronny, der Feigling, schien nicht widersprechen zu wollen. Eher das Gegenteil. Nachdem ihm die Großmutter einen albernen Fünfmarkschein für mich zusteckte, war für ihn das Nussknacker-Kapitel beendet.
Wenn ich ehrlich bin, konnte ich froh sein. Mit Ronny wäre wenig zu erleben gewesen. Mit Oma Krause dagegen, so verrückt und durchgeknallt sie auch war, schien alles möglich.
* * *
Die abendlichen Fernsehberichte über das Hochwasser in Ostdeutschland waren natürlich Pflicht. Niemand von den Krauses und Gässlers versäumte die Nachrichten und die aktuellen Pegelstände der Oder.
»Nachdem das Technische Hilfswerk und die Bundeswehr die Deiche mit allen verfügbaren Materialien abgesichert haben, hat es den Anschein, als würden die Deiche doch halten. Die Pegelstände steigen derzeit nicht mehr«, sagte der Nachrichtensprecher direkt vor Ort aus Frankfurt an der Oder in die Kamera.
Oma Krause sprang vom Sessel auf. Sie reckte beide Armein die Luft, wie beim Torjubeln im Fußball. »Jaaa! Ich hab’s gewusst!«, rief sie und tanzte durchs Wohnzimmer. »Auf meine Karten ist Verlass!«
Auch Opa Gässler sprang auf. Womöglich aus Solidarität. Er tanzte ebenfalls im Wohnzimmer herum. Es sah komisch aus, wie die beiden Alten wie zwei Kinder herumhüpften und immer wieder »Ich hab’s gewusst« und »Sie hat’s gewusst« riefen.
Horst winkte nur verächtlich ab und verließ das Wohnzimmer. Er ging in die Küche und holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank.
Auch Vater Gässler schüttelte den Kopf, sagte: »Der alte Spinner«, womit er Opa Gässler meinte, und verließ ebenfalls das Wohnzimmer. Auch er ging in die Küche und machte sich eine Flasche Bier auf.
»Prost«, sagte Horst Krause und stieß mit der Flasche von Vater Gässler an.
»Prost.«
»Da haben sich zwei gesucht …«, sagte Vater Gässler.
»Und gefunden«, ergänzte Herr Krause.
Sie schüttelten den Kopf, als würden Oma Krause und Opa Gässler alle in den Abgrund reißen.
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