Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Mädchen und zwei Frauen.«
»Geht das jetzt schon wieder los«, sagte die Pastorin.
»Vielleicht kommen sie bald auch hierher«, flüsterte Sabiah ängstlich.
»Bestimmt nicht«, sagte die Pastorin. Es klang nicht gerade überzeugend.
* * *
Die Senliks blieben noch einige Monate im Kirchenasyl. Mit ihnen auch ich. Ich stand meistens den ganzen Tag am Fensterund sah auf den Friedhof hinunter. Ich gebe zu, das war nicht gerade prickelnd. Auch für die Eltern von Sabiah war die Ungewissheit, wie es mit ihnen weitergehen würde, nervenaufreibend.
Sie schwankten zwischen Verzweiflung und Hoffnung und fragten sich jeden Tag, wie lange sie hier im selbst gewählten Asyl noch ausharren mussten, und ob es vielleicht nie zu Ende gehen würde.
* * *
Als die ersten Blüten leuchteten und die Sonne wärmer schien, tat sich dann doch etwas.
Die Pastorin kam an einem Nachmittag freudestrahlend in die Wohnung, jubelte, als wäre sie nicht vierzig, sondern vier, und rief: »Geschafft! Wir haben es geschafft!«
In ihrer Hand schwenkte sie ein Blatt Papier wie eine Siegesfahne.
»Die Abschiebung wird ausgesetzt!«
Die Eltern von Sabiah konnten es gar nicht glauben. Sie starrten auf den Zettel, als wäre es die frohe Botschaft. Es war die frohe Botschaft.
»Hier steht es schwarz auf weiß!« Die Pastorin zeigte auf das amtliche Schreiben.
Alle fielen sich in die Arme und weinten, diesmal vor Freude.
Die bis dahin befristete Aufenthaltsgestattung wurde in eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung umgewandelt. Die Familie durfte bleiben. Gleichzeitig bekam der Vater von Sabiah wieder eine Arbeitserlaubnis. Alles hatte sich zum Guten entwickelt.
Es dauerte nicht lange, und das Pfarrhaus war wieder vollerMenschen. Eltern, Schüler und andere Gemeindemitglieder brachten Kuchen mit und feierten mit den Senliks.
Die Freude war groß, das Glück unbeschreiblich. Sabiah schien alles zu vergessen: die Angst der zurückliegenden Monate, die Trauer, die Ungewissheit.
Und sogar mich. Ich blieb im Pfarrhaus, als die Familie noch am selben Tag wieder in ihre alte Wohnung zog. Sabiah hatte mich vergessen. Ich konnte es ihr nicht übel nehmen.
* * *
Kurz vor Weihnachten stand ich noch immer in der Gästewohnung des Pfarrhauses. Allerdings war ich der einzige Gast. Und ich langweilte mich, denn noch immer hatte ich nur den Blick auf den Friedhof. Auch die Pastorin wusste nichts mit mir anzufangen. Sie schien auch nicht zu wissen, warum ich hier stand und wem ich womöglich fehlen könnte. Sie steckte mich mit anderem Spielzeug – Puppen, Teddybären, Fußbällen, Matchboxautos, Legosteinen und dergleichen – in ein riesengroßes Paket und schickte mich zusammen mit all dem anderen Zeug in eine befreundete Kirchengemeinde nach Ostdeutschland, wie jedes Jahr zu Weihnachten. Nach dem Motto: Vielleicht können die es ja gebrauchen.
Konnten sie nicht, zumindest nicht mich. Die Teddybären und Puppen gingen auf dem Weihnachtsbasar in Frankfurt an der Oder weg wie warme Semmeln. Mich hingegen wollte niemand haben. Als Spielzeug war ich völlig ungeeignet. Kein Wunder. Ausgehöhlt und mit einem Loch im Körper, dazu noch mit einem Mund, der nicht zu bewegen war, wollte kein Kind mich zu sich nehmen.
Deshalb wanderte ich nach dem Weihnachtsbasar in der Kiste zusammen mit einer kaputten Spieluhr und einem Fußball ohne Luft in einen dunklen, muffigen Keller in der Nähe von Frankfurt an der Oder.
Das war’s dann , dachte ich. Hier werde ich wohl versauern. Hier werde ich liegen bleiben, bis ich alt und gebrechlich bin – und obendrein so dusselig im Kopf, dass ich mich an nichts mehr erinnern kann. Vielleicht nicht mal an mich selbst.
1997, Frankfurt an der Oder, Gelsenkirchen
»… Nachdem die Hochwasserfluten der Oder in der Nacht ganz Brandenburg erreichten, haben die dortigen Behörden Katastrophenalarm ausgelöst. In der Gemeinde Lutzo besteht nach wie vor die Gefahr eines Dammbruchs. Die Polizei beschloss am Morgen, die dreihundertvierzig Gemeindemitglieder auch gegen ihren Willen zu ihrem eigenen Wohl zu evakuieren …«
Das Radio im VW-Bus des Deutschen Roten Kreuzes sprach bei laufendem Motor leise vor sich hin, ohne dass der Wagen sich von der Stelle bewegte.
Im Bus saßen Familie Krause aus Lutzo und ich, obwohl ich mit den Krauses nichts zu tun hatte. Ich stammte aus einem Keller in Lutzo, in dem ich jahrelang – so schien es mir jedenfalls – abgestellt worden war, bis die Wassermassen mich mitsamt all dem
Weitere Kostenlose Bücher