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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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anderen Zeug davongespült hatten. Ich war auf der schmutzigen Brühe die Hauptstraße entlanggetriebenund hatte mich im Gartenzaun des überfluteten Gartens der Familie Krause verfangen. Der jüngste Krause, Ronny, hatte mich dann aus dem schmutzigen Wasser gefischt. Zuerst schien er überrascht gewesen zu sein, dann auch ein bisschen froh, und schließlich hatte er mich an sich genommen. Obgleich ich ihm schon auf den ersten Blick angesehen hatte, dass es zwischen uns keine Freundschaft fürs Leben werden würde. Es war eher eine Laune des vielleicht zehnjährigen Ronny gewesen.
    Jetzt wurden die Krauses wegen des immer weiter steigenden Wassers in Sicherheit gebracht. Entweder kamen die Evakuierten in eine Turnhalle oder zu Verwandten. Natürlich nur, wer welche hatte. Die Krauses hatten welche. Deshalb waren sie mit Hilfe des Deutschen Roten Kreuzes unterwegs nach Westdeutschland zu Tante und Onkel. Wäre da nicht Oma Krause gewesen, die auf keinen Fall ihr untergehendes Haus verlassen wollte und sich auf dem Dach des Einfamilienhauses verschanzt hatte.
    »Hallo, Sie, kommen Sie doch runter!«, rief einer der uniformierten Helfer von der deutschen Bundeswehr zum Dach des Krause-Hauses hinauf. »Sie können da oben nicht bleiben. Das Wasser steigt immer weiter und …«
    »Du hast keine Ahnung, was ich alles kann«, rief die Oma zurück. Sie wehrte sich mit allem, was ihr zur Verfügung stand, gegen die Zwangsevakuierung.
    Schuhe flogen den Soldaten um die Köpfe. Spucke regnete auf sie hinunter. So lange, bis es Horst Krause, dem Familienoberhaupt und Vater, zu dumm wurde. Er stieg aus dem noch immer im Standgas vor sich hin knatternden Rotkreuzbus und drohte bebend vor Wut und mit erhobener Faust: »Oma!Wenn du nicht vernünftig bist, kommst du auf der Stelle ins F-E-I-E-R-A-B-E-N-D-H-E-I-M! «
    Das stimmte Oma Krause um. Sie ließ sich mit einer Leiter und am Sicherheitsgurt von den Soldaten der Bundeswehr retten. Das Feierabendheim, das auch im Osten mittlerweile Alten- oder Seniorenheim hieß, schien für die rüstige Mittsiebzigerin der Horror zu sein, der Vorgarten zum Friedhof. Der Tod selbst.
    Als nun alle im Bus saßen, fragte der Rotkreuzler am Steuer: »Können wir jetzt?«
    Alle nickten. Das waren Vater Krause, Mutter Krause, Jenny, die vierzehnjährige Tochter, und Ronny, der zehnjährige Sohn. Nur Oma Krause nickte nicht.
    Die Fahrt zu ihren Westverwandten in Nordrhein-Westfalen in einem Vorort von Gelsenkirchen dauerte ein paar Stunden, in denen ich die Augen schloss und schlief.
    * * *
    Als ich sie wieder aufschlug, waren wir da. Alle stiegen aus. Bis auf Oma Krause. Die weigerte sich wieder, sodass sie von zwei Rotkreuzlern mehr aus dem Wagen getragen als hinausgeschoben werden musste.
    Vor einem grauen Einfamilienhaus in einer Siedlung mit ebenso grauen Einfamilienhäusern standen nun die Verwandten der Krauses empfangsbereit und steif nebeneinander aufgereiht wie bei einem Familienfoto. Die Familie Gässler. Das waren Vater Gässler, Mutter Gässler, die auch die Schwester von Horst Krause war, die Kinder Nicole und Julius und der Großvater Richard Gässler. Auf der einen Seite also die Gässlers, auf der anderen die Krauses. Die im fremden Vorgartenund inmitten ihres verbleibenden Hab und Gut verpackt in Koffern, Tüten und Taschen, wie bestellt und nicht abgeholt wirkten.
    Wer macht den ersten Schritt? Wer tritt als Erster vor? , fragte ich mich und sah Mutter Gässler, wie sie allen Mut zusammennahm und aus der Gruppe ausscherte, als wäre sie ein Schneepflug. Mit weit ausgebreiteten Armen und freundlichem Blick ging sie auf ihren Bruder zu und umarmte ihn. »Herzlich willkommen«, sagte sie. »Wird schon wieder werden.«
    Dabei kämpfte sie mit den Tränen. Das Eis war gebrochen. Die Familienbilder lösten sich auf und vermischten sich, ohne zunächst wirklich richtig zusammenzukommen. Distanziertes Händeschütteln folgte. Schüchtern wurden die ersten Worte gewechselt. Kein Wunder, denn nach der Wende hatten die beiden Familien sich bisher nur einmal getroffen. Dieses Treffen stand auch nicht gerade in einem glanzvollen Licht.
    »Hallo. Na, wie geht’s?«
    »Gut. Und dir?«
    »Danke, auch.«
    »Schön, euch zu sehen.«
    »Ebenfalls.«
    »Und? Alles klar?«
    »Geht so.«
    Mir war bei der Begrüßungszeremonie sofort klar, dass diese Familienzusammenführung, sieben Jahre nach dem Fall der Mauer, einzig durch steigendes Wasser herbeigeführt worden war, nicht durch freien Willen.
    Das

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