Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
gezerrt und neben den Wagen gestellt. Wie Asija trugen die drei muslimische Namen: Yusuf, Saifira und Muchtar.
Suzanna, deren Nase blutete, stieg ebenfalls aus dem Bus. Sie versuchte, den Anführer der Truppe ausfindig zu machen, wandte sich an den Ältesten der Soldaten und redete auf ihn ein. Immer wieder zeigte sie dabei auf Asija und die anderen Kinder. Der Soldat schien ihr gar nicht richtig zuzuhören. Er zog an seiner Zigarette und blies Suzanna den Rauch ins Gesicht. Dann nahm er seine Maschinenpistole und feuerte in die Luft, dass es allen in den Ohren fiepte. Suzanna und die Kinder zuckten zusammen. Der Mann trieb sie zurück in den Bus und brüllte: »Let’s go! Come on!«
Erneut feuerte er eine Salve in die Luft.
Die Straßensperre wurde geöffnet. Der Fahrer lenkte den Bus langsam an den zur Seite geschobenen Barrikaden vorbei. Ich erkannte Suzanna am Seitenfenster. Sie winkte, während ihre Wangen feucht von Tränen glänzten.
Als der Bus die Straßensperre passiert hatte, packten die Soldaten die zurückgebliebenen Kinder und warfen sie wie ein Bündel Altpapier auf den Pritschenwagen. Dabei entdeckte mich einer der Männer. Er entriss mich Asija, hielt mich in der Hand und lachte. Es war ein gemeines, hinterhältiges Lachen.
Entweder er bricht mich jetzt entzwei , dachte ich furchtsam, oder er denkt sich irgendeine andere Böswilligkeit aus, die mich den Kragen kostet .
Ich wollte nicht zuschauen und schloss die Augen. Dann flog ich auch schon in hohem Bogen durch die Luft, während eine Gewehrsalve auf mich abgefeuert wurde. Ich hörte das hässliche Fiepen der Kugeln, die an mir vorbeizischten.
Ich stellte mir vor, woanders zu sein, während ich durch die Luft segelte, weit weg, irgendwo, wo es keine Straßensperren und Explosionen gab. Keine hinterhältigen Soldaten, die auf wehrlose Nussknacker schossen. Ich wollte an einem Ort sein, wo Schießereien und Hunger nicht auf der Tagesordnung standen.
Und so flüchtete ich mich vor der grauenvollen Wirklichkeit in eine Fantasiewelt, in die Welt meiner Gedanken.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass das überhaupt möglich war, doch ehe ich mich’s versah, war ich den schießwütigen Soldaten entflohen.
Nur war ich plötzlich in eine umgebung geraten, die mir völlig fremd war. Sie hatte nichts mit meiner eigenen Fantasie zu tun.
Das war die Fantasie von jemand anderem.
Nur von wem?
Wo war ich?
1995 – 1996, Lübeck
»Hier können wir nicht mehr lange bleiben.«
Ich saß in einem leeren Klassenzimmer. Neben mir saß ein Mädchen mit etwas dunklerer Hautfarbe und schwarzen Haaren. Sie hatte Tränen in den Augen.
Wie ich hierhergekommen war, wusste ich nicht. Ich hatte einen Blackout, einen Filmriss. Auf jeden Fall nahm mich das vielleicht vierzehnjährige traurige Mädchen jetzt in die Hand.
Was ist? , wollte ich sagen. Was hast du?
Sie schniefte. Draußen vor den großen Fenstern konnte ich das blau schimmernde Morgenlicht sehen. Es schien ein schöner Herbsttag zu werden.
»Sie wollen uns hier nicht mehr haben.«
Wer sind sie und wer sind uns ? , fragte ich mich. Noch ehe das Mädchen diese Fragen beantworten konnte, ging die Klassenzimmertür auf. Ein anderes Mädchen in gleichem Alter, mit einer Brille und langen roten Haaren, kam in den Raum.
»Da bist du ja«, sagte sie und setzte sich neben das traurige Mädchen an den Tisch. Sofort merkte sie, dass etwas nicht stimmte.
»Was ist?«
Das Mädchen mit den schwarzen Haaren fing an zu weinen. Die Rothaarige legte den Arm um sie und sah mich an. »Sag schon.«
»Meine Eltern haben den Abschiebungsbescheid bekommen.«
»Oh nein!« Jetzt traten auch dem anderen Mädchen Tränen in die Augen. »Wann sollt ihr gehen?«
»In einer Woche.«
»Nein!« Wieder klang es, als wollte das rothaarige Mädchen es nicht glauben. Beide weinten.
Dann ging die Tür erneut auf, und zwei pickelgesichtige Jungs kamen herein. Der eine war schlaksig und groß, der andere klein und untersetzt. Beide waren im gleichen Alter. Auch sie standen um den Tisch und mussten von dem Mädchen mit der Brille das unvorstellbare erfahren.
Einer der Jungs schlug vor, etwas dagegen zu unternehmen.
»Was denn?«, fragte das Mädchen mit der Brille.
»Weiß ich auch nicht, aber wir können doch nicht einfach zuschauen, wie Sabiah gezwungen wird, hier wegzugehen, wo sie doch schon viel länger hier ist als irgendwo anders.«
Es klang einleuchtend, fand ich. Die beiden Mädchen jedoch schienen von dem Vorschlag
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