Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
nicht überzeugt. Sie sagten aber nichts. Dafür klingelte jetzt die Schulglocke. Wieder ging die Tür auf. Kurze Zeit später war das Klassenzimmer mit ungefähr zwanzig gleichaltrigen Kindern gefüllt. Im Mittelpunkt stand noch immer das Mädchen Sabiah. Alle hatten sich umihren Tisch versammelt. Rasch wurde allen klar, dass sie etwas unternehmen mussten. Der schlaksige Junge schien gar nicht so falsch gelegen zu haben.
Die Stimmen überschlugen sich. Jeder glaubte, eine Idee zu haben und diese auch kundtun zu müssen. Es war ein Lärm, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
»Wir können unterschriften für Sabiah sammeln«, rief ein Junge.
»Wir könnten sie verstecken«, schlug ein anderer vor.
»Au ja!« Große Zustimmung von allen Seiten.
»Wir könnten uns hier alle zusammen verschanzen.« Wieder allgemeines Einvernehmen.
»Wir könnten …«
Nichts konnten sie mehr, weil plötzlich ein Schrei durch das Klassenzimmer peitschte.
»RUHE! «
Die Lehrerin stand in der Tür. Sie schrie so laut, dass es ihr danach selbst ein wenig peinlich war. Augenblicklich war es mucksmäuschenstill. Die Kinder schlichen fast lautlos und ohne die Lehrerin anzuschauen zu ihren Plätzen.
»Tut mir leid«, sagte die junge Frau. »Aber sonst versteht man hier ja sein eigenes Wort nicht mehr.«
Sie hatte recht. Meine Ohren surrten wie ein Küchenmixer.
Jetzt erst schien auch die Lehrerin zu merken, dass die Klasse verändert war. Keiner lachte schadenfroh, niemand sagte etwas. Alle schauten betreten drein und schwiegen.
»Was ist los?«
Niemand antwortete.
»Ich sehe doch, dass irgendwas nicht stimmt.«
Noch immer kein Wort.
»Ihr wollt es mir nicht sagen?«
Die Lehrerin trat neben das Mädchen mit der Brille, die neben Sabiah saß, und fragte: »Julia, was ist los?«
Julia kämpfte mit den Tränen. Sie sagte leise, wie zu sich selbst: »Sabiah wird abgeschoben.«
»Was?« Jetzt erschrak auch die Lehrerin. Sie wechselte die Schulbankseite und ging zu Sabiah. »Das kann doch nicht sein! Sabiah?«
Sabiah blickte noch immer stumm und traurig vor sich hin. Dann nickte sie und brach wieder in Tränen aus.
»Scheiße.«
Es war das erste Mal, dass die Lehrerin fluchte. Zumindest war es an der Reaktion der Schüler abzulesen. Obgleich niemand lachte.
»Was machen wir jetzt, Frau Schulz?«, fragte der schlaksige Junge, der ganz hinten im Klassenzimmer saß.
Frau Schulz ging wieder nach vorne zur Tafel. Sie wirkte ein wenig benommen, als hätte auch sie keine Ahnung, was in so einem Fall zu unternehmen wäre. Sabiah war seit vielen Jahren in dieser Schule, und Frau Schulz war von Anfang an ihre Klassenlehrerin gewesen. Nie hatte es Schwierigkeiten mit ihr gegeben. Sie gehörte zwar nicht zu den besseren Schülerinnen, aber auch nicht zu den schlechten. Sie war eher Durchschnitt. Das alles schien der Lehrerin durch den Kopf zu gehen, als sie nun vorne an der Tafel stand und schweigend vor sich hin blickte. So lange, dass der schlaksige Junge erneut fragte: »Frau Schulz?«
»Wir müssen es verhindern«, sagte Frau Schulz leise, als hätte sie noch keinen Plan. »unbedingt!«
Ihre Entschlossenheit sprang auf die Schüler über. Alleklatschten und riefen »Ja« und »Auf jeden Fall!« und »Wir müssen es verhindern!«
Der Mathematikunterricht, der eigentlich auf dem Stundenplan stand, wurde kurzerhand gestrichen. Es schien Wichtigeres zu geben als mathematische Gleichungen. Sabiah musste vor der Abschiebung in den Irak gerettet werden. Nur wie? Weder die Schülerinnen noch die Lehrerin schienen eine Idee zu haben.
Wie sich herausstellte, war Sabiah vor acht Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, nachdem sie aus ihrem Heimatland, dem Irak, fliehen mussten. Als Kurden waren sie im Irak nicht mehr sicher. Dabei hatten sie noch Glück. Kaum hatten sie ihre Heimatstadt Halabdscha verlassen und sich heimlich über die Grenzen bis nach Deutschland abgesetzt, wurden ihre Verwandten bei einem Giftgasangriff umgebracht. Aber nicht nur die Verwandten kamen ums Leben: Bis zu 5000 andere Menschen starben einen qualvollen Tod. Die meisten waren Kinder, Frauen und alte Männer. Zwischen 7000 und 10 000 Menschen wurden bei dem Massaker so schwer verletzt, dass sie später starben oder dauerhafte Gesundheitsschäden davontrugen.
Sabiah und ihre Familie hatten großes Glück gehabt, Halabdscha rechtzeitig verlassen zu haben. Es wäre gar nicht anders gegangen. Nur, in Deutschland bekamen sie kein Asyl,
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