Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
»Ich glaub, zwischen denen hat’s gefunkt.«
Er zog Oma Krause an der Hand hinter sich her zurück auf die Terrasse.
* * *
»… pausenlose Deichsicherung. Nachdem die Bevölkerung aus den Gebieten evakuiert wurde, wo die Deiche der Oder zu brechen drohen, versuchen das Technische Hilfswerk, die Bundeswehr und weitere Hilfsorganisationen die Fluten zu bändigen. An der Hochwasserabwehr beteiligen sich mittlerweile Tausende von Menschen aus Ost und West. Auch Hubschrauber werden eingesetzt. Der Bundeskanzler, der ausseinem urlaub in Österreich an die Oder gekommen war, betonte, dass die Überschwemmungsopfer nicht im Stich gelassen würden …«
»Das sagen die immer«, rief Oma Krause dazwischen. »Und wenn die Kameras weg sind, gibt es doch nichts.«
»Pssst!«, machte Vater Krause.
»… Der Pegelstand hat längst die Jahrhunderthochwassermarke überschritten. Die Lage bleibt angespannt. In den nächsten Tagen sollen erstmals fünftausend Menschen vorsorglich gegen Gelbsucht und Typhus geimpft werden …«
»Da können wir froh sein, dass wir nicht da sind«, meinte Ronny, der vor nichts mehr Angst hatte als vor Spritzen.
»Pssst!« Vater Krause brachte seinen Sohn zum Schweigen.
Der Beitrag in der Tagesschau war zu Ende. Der Moderator legte das Blatt zur Seite, nahm ein anderes in die Hand und schaute noch betrübter in das Wohnzimmer im Vorort von Gelsenkirchen.
»Lady Di ist tot«, sagte er. Es klang wie: »Die Welt geht unter.«
»Nein!«, schrien Mutter Krause und Mutter Gässler gleichzeitig.
Beide schlugen die Hände vor den Mund. Tränen schossen ihnen in die Augen. Sie starrten auf den Bildschirm wie in den Abgrund der Hölle.
»Der Tod der englischen Prinzessin Diana um 0.30 Uhr in der gestrigen Nacht zum 31. August hat weltweit Entsetzen ausgelöst. Die Prinzessin der Herzen starb gemeinsam mit ihrem Liebhaber Dodi al Fayed nach einem tragischen Autounfall in Paris. Mehrere Fotografen, sogenannte Paparazzi, hatten Lady Di in ihrem Mercedes S 280 mit Motorrädernund Autos quer durch die Stadt gejagt. Im Pariser Alma-Tunnel verlor der Fahrer die Kontrolle über das Auto, geriet ins Schlingern und prallte mit fast zweihundert Stundenkilometern gegen den dreizehnten Betonpfeiler des Tunnels. Der Fahrer und Dianas Liebhaber waren auf der Stelle tot. Diana und ihr Bodyguard, Trevor Rees-Jones, wurden schwer verletzt. Prinzessin Diana starb wenige Stunden nach der Einlieferung ins Krankenhaus.«
Bilder des demolierten Wagens waren auf dem Bildschirm zu sehen. Während die weiblichen Familienmitglieder Rotz und Wasser heulten, versuchten die Männer, ihre Frauen zu trösten. Horst Krause nahm seine Gattin in den Arm und sagte: »Ist doch halb so schlimm.« Woraufhin Frau Krause noch herzzerreißender weinte.
»Auch berühmte Menschen müssen sterben«, meinte Vater Gässler wenig überzeugend und strich seiner in Tränen aufgelösten Gemahlin über den Rücken.
»Ich wusste es!«, sagte Oma Krause. Dann, an Opa Gässler gerichtet: »Hab ich nicht gestern in meinen Karten so etwas gesagt?«
Opa Gässler nickte entschlossen. »Hast du.«
Vater Krause warf der Oma wieder tödliche Blicke zu, schnell wie die todbringenden Motorräder der Paparazzi. Vater Gässler warf ebensolche zu seinem Vater.
Das hielt die Oma aber nicht davon ab, ihre Tarot-Karten auf dem Wohnzimmertisch auszubreiten. Schon fing sie darin zu lesen an.
»Das war kein Unfall«, sagte sie, während ihr der Opa aufmerksam zuhörte. Die anderen wiederum schienen zwischen den Bildern im Fernsehen und den Weissagungen der Großmutterhin- und hergerissen zu sein. Als die Oma aus den Karten las und behauptete: »Das war Mord!«, wurde es ihrem Sohn zu bunt.
»Hör auf, Oma!«
Die Oma hörte aber nicht auf.
»Der Geheimdienst. Das Königshaus. Lady Di war ihnen zu beliebt …«
»Schluss jetzt!«
Horst Krause wischte über den Tisch, dass die Karten in sämtliche Richtungen flogen.
Die Oma stand auf. Mit Hilfe von Opa Gässler sammelte sie ihre Karten zusammen. Anschließend hob sie den Kartenstoß wie eine Monstranz in die Luft und verließ mit mir in der anderen Hand und einem Blick, der alle Gässlers und Krauses zum Teufel wünschte, das Wohnzimmer. Solidarisch folgte ihr Opa Gässler.
* * *
In den nächsten Tagen verdrängte die tote Prinzessin das Hochwasser an der Oder und schweißte damit die beiden Familien in der Trauer um Diana zusammen. Im Angesicht des Todes von Lady Di hätten die Krauses noch ein Leben lang
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