Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Was eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein konnte.
* * *
Julius, der wegen eines grippalen Infekts von seiner Mutter zu einem Tag schulfrei verdonnert worden war, glaubte sich an diesem Morgen weitgehend allein. Er wusste, dass Oma Krause zusammen mit Opa Gässler auf der Terrasse saß, wo beide wieder etwas ausheckten. Alle anderen waren außerHaus. Zumindest war niemand zu sehen und auch nichts zu hören. Julius schlich den Flur entlang zur Küche. Dort steuerte er magnetisch angezogen den Kühlschrank an. Er öffnete ihn und kämpfte dabei mit dem Wasser, das ihm im Mund zusammenlief. Julius erblickte Leberwurst, Schinkenwurst und Salami. Der Kühlschrank schien eine Metzgerei zu sein. Dann Käse: Emmentaler, Emmentaler, Emmentaler. Und Marmelade: Himbeere, Erdbeere, Stachelbeere. Und alles andere, was ihm von der Mutter wegen seines Übergewichts verboten war. Zu Recht, wie die Mutter fand. Wer als dreizehnjähriger Junge 75 Kilo wiegt, muss abnehmen. Mit dem, was sich da im Kühlschrank befand, konnte man unmöglich abnehmen.
Julius selbst wäre gern dünner gewesen. Er hatte es satt, ständig wegen seinem Gewicht verulkt zu werden. Aber auf die Leckereien wollte er auch nicht verzichten. Deshalb stopfte er sich ohne lange zu überlegen die Wurst und den Käse in den Mund. Er kaute und kaute, schluckte und schluckte und spürte ein befriedigendes Gefühl unter der Bauchdecke. Auch satte Erleichterung im Kopf. Als er sich gerade die letzte Scheibe der Schinkenwurst in den Mund geschoben hatte, pfiff jemand. Es klang wie Bewunderung und Verachtung in einem. Julius erstarrte. Ich auch.
Ich sah ihm an, wie sehr er hoffte, dass es nicht seine Mutter sein möge.
Langsam, wie in Zeitlupe, drehte er den Kopf ein klein wenig über die Schulter. Noch ein Stück. Bis sich ein überraschender Anblick in sein Gesichtsfeld drängte.
Auch ich sah es. Durch die offen stehende Tür sahen wir, vom Türstock wie eingerahmt, die Eckbank im Esszimmer.Auf der Eckbank saß, mit dem Ellbogen auf dem Tisch aufgestützt über einem Buch … Jenny!
Sie starrte Julius durch ihre Brillengläser hindurch ausdruckslos an. Verdammt, die hatte Julius offenbar total vergessen. Kein Wunder, so unscheinbar, wie sie war.
»Schmeckt’s?«, fragte Jenny.
Julius erschrak noch mehr.
Die kann ja sogar sprechen, schien er zu denken. Es war wirklich das erste Mal, dass Jenny etwas sagte. Ihre Stimme klang für die eines Mädchens im zarten Alter von vielleicht vierzehn Jahren ziemlich tief, verraucht und verrucht.
»J-ja, schon«, stammelte Julius und schluckte die Schinkenwurst hinunter. Er schloss den Kühlschrank und ging durch die Küche zum Esszimmer. Er schien ziemlich verunsichert, wusste nicht, ob er sich setzen oder doch lieber stehen bleiben sollte. Er hielt einen Sicherheitsabstand und verharrte an der Tür. Jennys Augen fixierten ihn wie eine hungrige Schlange das Kaninchen. Sie sah aus, als wollte sie Julius mit Haut und Haaren auffressen. Eine unendlich lange, nicht enden wollende Pause entstand. Jenny schaute, und Julius schaute immer wieder weg.
»Warum schlägst du dir eigentlich heimlich die Wampe voll?« Wegen Jennys verruchter, rauer Stimme klang es in meinen Ohren wie: »Hast du schon mal?«
Auch Julius’ Ohren mussten Ähnliches gehört haben, da er jetzt ganz schnell »Nein!« aus sich herauspresste.
»Hä?«
»Äh … schau mich doch an«, sagte Julius mit feuerrotem Gesicht, was sich als Erklärung sowohl für das eine wie für das andere anbot.
Er präsentierte sich dabei in ganzer Breite und Länge, indem er seinen Daumen wie einen Pistolenlauf auf sich richtete. Es sah ziemlich komisch aus, wie der fette Julius so dastand, als könnte er sich selbst kaum fassen.
Jenny platzte beinahe vor Lachen. Ihr Gelächter wirkte ansteckend. Ich lachte ebenfalls. Dann auch Julius. Er lachte und rief immer wieder: »Schau mich doch an!«
Dabei bewegte er sich wie auf einem Laufsteg und nahm die unterschiedlichsten Posen ein. Er turnte vor Jenny herum, bis beide tränenüberströmt nach Luft schnappten. Jenny prustete: »Ich finde dich auch so ganz okay!« Julius lief wieder knallrot an. Offenbar hatte das noch nie jemand zu ihm gesagt. Schon gar nicht ein Mädchen in seinem Alter.
Ehe er antworteten konnte, standen Oma Krause und Opa Gässler staunend im Esszimmer und fragten wie aus einem Munde: »Was ist denn hier los?«
Julius und Jenny konnten nicht antworten.
»Lass die beiden mal«, sagte Opa Gässler.
Weitere Kostenlose Bücher