Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
warteten im Hinterhof, bis der Krankenwagen verschwunden war.
Dann rannte Salomon los. Gespenstische Bilder zogen an uns vorbei. Die Schaufenster der Ladengeschäfte waren zertrümmert. Manche Läden waren geplündert, andere waren ausgebrannt. An vielen Hauswänden stand mit weißer Farbe »Judenschweine!« und »Weg mit den Juden!«. Rauch lag über der Stadt. Es stank, und die Augen tränten.
Salomon schlug sich im Schutz der Nacht mit seinem Geigenkoffer auf dem Rücken und mit mir im Stoff beutel bis zum Transformatorenhäuschen durch. Am Flussufer warenwir vorerst in Sicherheit. Am Horizont loderte die Glut der brennenden Häuser. Es war bitterkalt. Salomon schrieb auf die Rückseite eines Notenblatts ein paar Zeilen an Adelheid.
Liebe Adelheid, ich muss weg. Die Nazis wollten uns holen. Mutter hat einen Zusammenbruch erlitten. Sie ist im Krankenhaus. Ich weiß nicht, wie es ihr geht. Ich kann ihr jetzt auch nicht helfen. Die größte Hilfe für sie ist, wenn sie weiß, dass ich in Sicherheit bin. Sie suchen mich. Ich kann hier nicht mehr bleiben. Rosenfeld ist auch verschwunden. Sie werden auch mich verhaften. Gründe spielen für sie keine Rolle. Ich muss ins Ausland, solange die Grenzen noch halbwegs offen sind. Vielleicht in die Schweiz oder nach Frankreich. Da werde ich dann warten, bis der Spuk vorbei ist. Aber das kann dauern. Ich werde dich vermissen. Dich und das Transformatorenhäuschen. Schade, dass ich dir das alles nicht mehr selber sagen kann. Ich habe überlegt, noch bei dir vorbeizukommen, aber ich glaube, es ist zu gefährlich. Ich warte jetzt, bis es hell wird, dann gehe ich zum Bahnhof. Ich kaufe mir eine Fahrkarte und tue das, was Vater schon vor Jahren vorgeschlagen hat. Für ihn ist es zu spät, für mich hoffentlich noch nicht. Mit ein bisschen Glück und meinem Talisman, dem Nussknacker, bin ich übermorgen Abend schon tausend Kilometer weit weg. Aber auch da werde ich an dich denken. Wenn du das alles liest, bin ich hoffentlich schon in Sicherheit. Ich umarme dich und denke an dich. Dein Salomon.
Er hängte den Brief an die Tür des Häuschens.
Dann warteten wir, bis es hell wurde. Als die Sonne über den Häusern aufging und alles in ein schmutziges Licht tauchte, fuhren wir mit der Straßenbahn zum Bahnhof Zoologischer Garten.
* * *
»Salomon!«
Salomon erschrak. Ich erschrak in meinem Stoff beutel ebenfalls. Salomon blieb stehen.
Er wagte es nicht, sich umzudrehen. Er hatte Angst. Vielleicht war seine Flucht, seine Reise, schon zu Ende, ehe sie richtig begonnen hatte.
»Salomon, ich bin’s!«
Jetzt erkannte er die Stimme und drehte sich um. »Adelheid! Wo kommst du denn her?«
»Und du, wo willst du hin?«, fragte Adelheid nicht minder erstaunt.
»Weg«, flüsterte Salomon. »Weg von hier, egal wohin.«
Sie standen sich jetzt gegenüber. Adelheid zog eine kleine Papiertüte aus der Tasche und hielt sie in der Hand. Sie schien leer zu sein. »Hier, für dich!«
Salomon nahm die Tüte, blickte hinein und sah ein paar Geldscheine.
»Du wirst es brauchen. Es ist nicht viel, aber alles, was ich habe.«
Salomon küsste sie auf die Wange. »Danke!«
»Deine Mutter ist im Krankenhaus, nicht wahr?«
»Woher weißt du das?«
»Meine Mama hat es mir erzählt. Sie hatte Dienst, als deine Mutter eingeliefert wurde. Ich habe dich zu Hause nicht gefunden, und in eurer Wohnung sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Da bin ich zu unserem Transformatorenhäuschen …«
»Du hast den Brief gefunden?«
Sie legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn auf die Wange.
Er löste sich von ihr. »Ich habe keine Zeit mehr. Ich muss weg, solange ich noch kann. Die Schlinge zieht sich zu.«
»Ich weiß. Wo willst du hin?«
»Zuerst nach Paris, und dann … ich weiß nicht. Und du?«
»Ich bleibe hier«, sagte Adelheid. »Ich glaube, hier kann ich mehr bewirken als vom Ausland aus.«
»Du glaubst, du kannst hier was erreichen?« Salomon war skeptisch. »Wie denn?«
»Ich weiß es nicht. Man muss es versuchen.«
»Und dein Vater?«
»Der schlägt mich tot, wenn er davon erfährt.«
Salomon dachte nach. Ich wusste genau, was für Gedanken ihm jetzt durch den Kopf gingen. Er traute sich aber nicht, sie auszusprechen und Adelheid zu fragen, ob sie mit ihm kommen wolle.
»Ich kann nicht«, sagte sie, als könnte sie ihm die Gedanken an der Nasenspitze ablesen.
Salomon versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Ich merkte sie ihm aber an, und Adelheid ebenfalls.
»Tut
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