Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Café zu betreten.
»Kind, du darfst hier nicht mehr rein«, sagte sie ganz aufgeregt. »Es tut mir leid, aber schau, da steht’s.«
Frau Brenner zeigte auf ein Schild neben der Ladentür. Juden haben keinen Zutritt! stand in weißen, handgeschriebenen Buchstaben auf schwarzem Grund. »Sie haben es heute Morgen aufgehängt. Ich muss mich daran halten, sonst kündigt mir der Vermieter.«
»Und was ist mit dem Bienenstich und dem Luftröhrenschnitt?«, fragte Salomon verärgert.
»Tut mir leid, aber wenn ich dich hier bediene, machen sie mir sofort den Laden zu.«
»Deshalb kriegt sein Bub jetzt lebenslang Frei-Eis und Frei-Schokolade«, äffte Salomon Frau Brenner nach.
»Ich kann doch nichts dafür. Wirklich, es tut mir leid.«
Sie zog Salomon am Ärmel zur Seite und flüsterte: »Pass auf, ich reich dir heimlich zum Küchenfenster das Eis heraus, hinten im Hof, dann isst du es woanders, einverstanden?«
»Entweder ich esse es am Personaltisch wie immer, oder ich esse es gar nicht.«
»Bub, sei doch nicht so hart.«
» Sie sind hart, Frau Brenner.«
»Ich kann doch nichts dafür.«
»Ich auch nicht.«
Salomon drehte sich um und ging. Nach ein paar Metern blieb er noch einmal kurz stehen, blickte zurück und rief: »Sie haben Vater verhaftet.«
Frau Brenner schlug die Hände vors Gesicht und sagte leise, wie zu sich selbst: »Um Himmels willen.«
* * *
Ein halbes Jahr später, am 9. November, war auch Herr Rosenfeld verschwunden. Niemand wusste, ob man ihn ebenfalls festgenommen hatte, oder ob er geflüchtet war.
Als Salomon an diesem Nachmittag zum Geigenunterricht zu ihm kam, war die Wohnung unverschlossen, und von Herrn Rosenfeld gab es keine Spur.
Auf dem Rückweg traf Salomon noch einmal Adelheid am Transformatorenhäuschen. Sie erzählte ihm, dass Salomons Vater ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht worden sei. Ihr Vater hatte es beim Frühstück erzählt.
»Was willst du jetzt tun?«, fragte Adelheid.
Salomon sah aus, als hätte er keine Ahnung.
Auf dem Weg vom Fluss nach Hause zogen uniformierte Männer mit Fackeln durch die Straßen. Salomon traute seinen Augen kaum. Die Männer traten mit ihren schweren Stiefeln Türen ein, drangen in Läden vor, plünderten sie, schlugen Fensterscheiben ein und zündeten Geschäfte an. Geschreiwar zu hören. Schüsse peitschten. Häuser brannten. Menschen wurden abgeführt und auf offener Straße zusammengeschlagen.
Salomon rannte. Ohne sich umzuschauen, stürmte er an dem ganzen Durcheinander vorbei. Einmal stürzte er, stand aber sofort wieder auf und rannte weiter.
Zu Hause empfing ihn seine Mutter im Morgenmantel und mit verheulten Augen.
»Da bist du ja endlich!«, sagte sie. »Wo warst du denn?«
Sie nahm ihn in die Arme.
»Wir müssen weg!«, rief Salomon. »Wir müssen verschwinden, Mama! Komm schnell!«
»Ich kann nicht. Ich schaff das nicht.«
»Sie holen uns! Wir müssen weg!«
»Geh allein.«
»Mama!«
Es klingelte.
»Mach nicht auf, Mama!«
Es wurde an die Tür gehämmert. »Aufmachen!«
»Geh, schnell, durch das Fenster!«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Ich halte sie hier zurück.«
Nimm mich mit! , wollte ich Salomon zurufen. Als ob er mich verstehen könnte, griff er ins Regal und drückte mich unter seinem Pullover zwischen Gürtel und Hosenbund an den Bauch. Er warf seine Geige in den Geigenkoffer, klemmte den Koffer mit dem Gurt auf dem Rücken fest und riss das Fenster auf, während schon Fußtritte an der Wohnungstür zu hören waren. Holz splitterte. Salomon stieg auf das Fensterbrett, griff nach dem Regenrinnenrohr und ließ sich daran hinuntergleiten, so schnell er konnte.
»He, der haut ab!«, rief jemand von oben.
Am Fenster standen jetzt zwei uniformierte Männer und sahen ihm hinterher.
Salomon rannte los, blieb dann aber kurz stehen und überlegte. Ich hörte seinen keuchenden Atem und sein schnell pochendes Herz. Er öffnete den Deckel eines großen Müllkübels aus Blech, der im Hinterhof stand. Schwere Schritte waren zu hören. Salomon sprang in den Kübel und zog den Deckel von innen zu. Sekunden später waren Stimmen zu vernehmen.
»Der ist weg!«
»Weit wird er nicht kommen!«
»Rotzlöffel!«
Die Schritte entfernten sich wieder. In der Ferne waren Sirenen zu hören.
Nach einer Weile kletterte Salomon aus dem Kübel und schlich sich an der Wand entlang über den Hinterhof. Am Vordereingang wurde seine Mutter, begleitet von zwei Sanitätern, auf einer Trage aus dem Haus gebracht.
Wir
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